Seite:Westphälische Sagen und Geschichten 144.png

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

Niemand hat ihn wiedergesehen. Auch der Schwan nicht. Aber in dem Schwanenthurme zu Cleve hörte man oft um Mitternacht lieb heimliches Flüstern und Rauschen. Man hört es noch oft, obgleich der Thurm nur eine nackte Ruine mehr ist.

Die Sage erzählt – und warum sollte es nicht so seyn? – Der Schwan sey eine überirdische Fee gewesen, mit der Elias Grail in heimlicher Liebe gelebt habe. Als dieser sich mit der Gräfin Beatrix vermählt, habe sie vor dem Segen der christlichen Kirche weichen müssen. Allein, obgleich verlassen und verschmähet, habe sich ihre Liebe zu Elias Grail dennoch nicht in Haß gekehrt; vielmehr sich in die innigste Liebe zu allen Nachkommen des Grafen Elias aufgelöset. Und sie, und nicht eine Gräfin Anna[WS 1] von Rosenberg, sey es, welche noch jetzt als weiße Frau umherwandle und erscheine, und traurig es vorher verkünde, wenn das Geschlecht ihres Geliebten von einem Todesfalle oder einem Unglücke bedrohet werde. Das letzte Mal hat man sie gesehen, als sie den Tod der edelsten Königin verkündete, der unvergeßlichen Luise von Preußen. Drey Nächte wandelte sie vom Schwanenthurme in das Schloß zu Cleve und durch alle Gänge desselben, in weiten weißen Gewändern, still und langsam und in der tiefsten Trauer. Am vierten Tage war die edelste Frau verschieden.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Annna
Empfohlene Zitierweise:
H. Stahl alias Jodocus Temme: Westphälische Sagen und Geschichten. Büschler'sche Verlagsbuchhandlung, Elberfeld 1831, Seite 144. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Westph%C3%A4lische_Sagen_und_Geschichten_144.png&oldid=- (Version vom 10.8.2020)