Fast zwei Jahrzehnte sind vergangen, seitdem Kaiser Wilhelm II. die erste Konferenz zusammenrufen ließ, welche über die Verbesserung unseres Schulwesens beraten sollte. Für viele war dies damals ein völlig unerwarteter Alarmschuß: war denn nicht unser Schulwesen das vollkommenste in der Welt, ja fast das einzige Ding, in welchem der Deutsche allen anderen Völkern gegenüber unbedingt den Vorzug beanspruchte? Was gab es denn daran überhaupt zu verbessern, und war es denn nicht viel weiser, diese ausgezeichnete Einrichtung ruhig bestehen zu lassen, statt sie durch unzeitgemäße Verbesserungsversuche von ihrer Höhe herabzustoßen? Und als die Männer zusammentraten, denen man damals die beste Kenntnis des Schulwesens und das beste Urteil über seinen Zweck und dessen Erfüllung zutraute, war dies denn auch der Grundton ihrer Äußerungen. Man gab zu, daß vielleicht hie und da eine gewisse Anpassung an die Forderungen der Zeit eintreten könne, im ganzen aber müsse unbedingt am „bewährten Alten“ festgehalten werden. Und so geschah es denn auch.
Versuchen wir heute aus einer immerhin bereits ziemlich erheblichen geschichtlichen Perspektive uns diese Vorgänge klar zu machen, so haben wir einerseits in der Initiative des Kaisers den Ausdruck für die noch lebendig nachwirkenden Erfahrungen, welche er selbst in seinen Gymnasiastenjahren gemacht hatte. Ihre Summe war, daß zwischen Schule und Leben eine so tiefe Kluft gähnt, daß der wirkliche und notwendige
Wilhelm Ostwald: Wider das Schulelend. Akademische Verlagsgesellschaft m.b.H., Leipzig 1909, Seite 5. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wider_das_Schulelend.pdf/11&oldid=- (Version vom 1.8.2018)