sich über diese Ziele klar zu werden, um sie dann mit den vorhandenen Mitteln in dem Nachwuchs zu verwirklichen. Jedesmal aber werden die Eltern aus ihren Kindern das zu machen suchen, was sie selbst am liebsten sein möchten, und die Erziehung wird um so erfolgreicher arbeiten, je genauer sie den Idealen ihrer Zeit und ihres Volkes entspricht und sie verwirklicht. Unheil und Zwiespalt aber entstehen, wo keine Übereinstimmung besteht zwischen den tatsächlichen Idealen des Volkes und den Erziehungsidealen seiner Schule. Das ist leider der Zustand, den wir gegenwärtig an unserer Schule zu beklagen haben. Die Ideale, welche eine längst untergegangene Menschenklasse angestellt habt, nämlich die internationalen Humanisten des sechzehnten Jahrhunderts, welche damals nur ein kurzes Scheinleben führen konnten, sind inzwischen in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts wieder künstlich für Schulzwecke galvanisiert worden und werden gegenwärtig als die Ideale der verbreitetsten und einflußreichsten mittleren Schulgattung, nämlich des humanistischen Gymnasiums, aufrecht erhalten, obwohl sie nirgend ein wirkliches Leben führen.
Wir sind alle bereit, Ideale als maßgebende Lebenswerte anzuerkennen. Wir sind mit anderen Worten alle überzeugt, daß wir uns Ziele unserer Entwicklung setzen, die wir gegenwärtig sicher noch nicht erreicht haben, die wir vielleicht nie erreichen werden, denen wir uns aber annähern können. Das humanistische Ideal beruht nun auf der Ansicht, daß die
Wilhelm Ostwald: Wider das Schulelend. Akademische Verlagsgesellschaft m.b.H., Leipzig 1909, Seite 22. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wider_das_Schulelend.pdf/28&oldid=- (Version vom 1.8.2018)