Griechen und die Römer den Höhepunkt der Menschheit darstellen, so daß wir uns so tief wie möglich in den Geist des Altertums uns zu versenken bemühen müßten, um im Sinne dieses Geistes unser eigenes Leben zu führen.
Ich glaube, man braucht dieses Ideal nur einmal mit klaren Worten auszusprechen, um sich von seiner vollendeten Sinnlosigkeit zu überzeugen. Einmal wissen wir aus der Geschichte nur zu genau, welch eine Unsumme von Lüge, Hinterlist, Grausamkeit und Gemeinheit das Leben jener beiden Völker erfüllt hat. Wir wissen aber auch, daß es heute keinen Menschen gibt, der sich ernsthaft bemüht, sein Leben im Sinne der Griechen oder Römer zu gestalten. Sehen wir uns doch diejenigen Volksgenossen an, welche am meisten von den Griechen und Römern des Altertums wissen, oder doch zu wissen behaupten, nämlich die Professoren und Oberlehrer der klassischen Philologie. Ich will gewiß niemandem persönlich zu nahe treten, aber ich kann beim besten Willen in diesem Teil der deutschen Bevölkerung nicht den Höhepunkt unseres Volkes, weder in körperlicher noch in geistiger Beziehung erkennen. Sie sind gewiß nicht schuld daran, denn sie haben nach allen Kräften sich bemüht, aus sich selbst so viel zu gestalten, als es ihre Anlagen und ihr Ideal gestatteten. Es liegt ausschließlich und nur an ihrem Ideal selbst, das sich eben hierdurch als völlig unbrauchbar erwiesen hat.
Warum dies der Fall ist, lehrt uns ein Blick in die Kulturgeschichte. Aus dieser können und müssen wir entnehmen, daß die Menschheit beständig fortschreitet.
Wilhelm Ostwald: Wider das Schulelend. Akademische Verlagsgesellschaft m.b.H., Leipzig 1909, Seite 23. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wider_das_Schulelend.pdf/29&oldid=- (Version vom 1.8.2018)