Dies mag zu verschiedenen Zeiten in bestimmtem Sinne langsamer und schneller geschehen; wir beobachten sogar, daß zuweilen eine bereits in einem bestimmten Gebiet erreichte Kulturhöhe zeitweilig abnimmt, weil die Menschheit sich anderen, dringenderen Aufgaben so intensiv hingibt, daß sie die früheren vernachlässigt. Aber die zusammenfassende Erfahrung läßt zweifellos erkennen, daß die Gesamtheit der Bewegung ein Fortschritt ist.
Daraus geht nun mit Notwendigkeit der allgemeine Satz hervor, daß vergangene Zustände niemals als Ideale dienen können. Allerdings sind solche Ideale sicherlich unerreichbar, da niemals ein vergangener Zustand wiederkehren kann. Aber wir entfernen uns eben wegen der Kulturentwicklung immer weiter von ihnen, statt uns ihnen zu nähern; durch diesen unvermeidlichen Umstand widersprechen sie also dem Begriff des Ideals selbst. Endlich aber sind vergangene Zustände in Summa gewiß dümmer und schlechter gewesen, als die gegenwärtigen sind, so mangelhaft diese auch noch sein mögen; somit muß die Aufstellung eines Vergangenheitsideals unter allen Umständen zu Rückschritten führen und kann keine Fortschritte bedingen. Alle diese Eigenschaften finden wir an dem humanistischen Ideal wieder, und deshalb muß dieses Irrlicht sobald wie möglich aus unserem Erziehungswesen herausgetan werden, um wirklich lebenden und lebenspendenden Idealen Platz zu machen.
Und diese wirklichen Ideale sind in unserer Zeit zu suchen. „Dann versinken wir in flachem Materialismus“ rufen hier die
Wilhelm Ostwald: Wider das Schulelend. Akademische Verlagsgesellschaft m.b.H., Leipzig 1909, Seite 24. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wider_das_Schulelend.pdf/30&oldid=- (Version vom 1.8.2018)