in den Mittelschulen entsprechen beide nicht den Kulturforderungen der Gegenwart, sie entsprechen weder dem Stande unseres Wissens noch dem Inhalte unseres Lebens.
Werfen wir einen Blick auf den Stundenplan irgendeiner dieser Mittelschulen, heiße sie nun Gymnasium, Realgymnasium oder Oberrealschule und rechnen die Unterrichtsfächer nach Stunden zusammen, so finden wir, daß ohne Ausnahme die reichliche Hälfte der ganzen Zeit durch Sprachunterricht ausgefüllt wird. In die andere Hälfte haben sich alle übrigen Fächer, einschließlich Religion und Turnen zu teilen. Hiernach müßte den Sprachen ein ganz außerordentlicher Bildungswert innewohnen, ein Bildungswert, der dem aller anderen Fächer zusammen gleichwertig oder überlegen ist. Nun ist die Sprache ein Mittel, Gedanken zu übertragen, ebenso wie die Straße ein Mittel ist, Orte zu verbinden. Dem Verfahren der Schule würde es entsprechen, wenn wir mehr als die Hälfte der Erdoberfläche mit Straßen bedeckten und alle übrigen Bedürfnisse des Menschen auf den kleineren Rest zusammendrängten, der hernach übrig bleibt.
Aber die Sprache ist ja doch an sich ein Bildungsmittel! wird uns hier der Chor der Gymnasiallehrer unter Führung der Humanisten entgegenrufen. Das ist eben der grobe Irrtum, durch welchen unser Mittelschulwesen sich selbst zur Unfruchtbarkeit verdammt hat. Die Sprache ist ebensowenig ein Bildungsmittel, wie die Eisenbahn, sondern ein Verkehrsmittel. Und
Wilhelm Ostwald: Wider das Schulelend. Akademische Verlagsgesellschaft m.b.H., Leipzig 1909, Seite 34. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wider_das_Schulelend.pdf/40&oldid=- (Version vom 1.8.2018)