und in der Oberrealschule nehmen die fremden modernen Sprachen seine Stelle ein. In dem zehnten Teile der Zeit, welche ein Schüler dieser Lehranstalten darauf vergeuden muß, lernt ein Kaufmann oder Kellner fließend englisch oder französisch sprechen. Soweit bringt es der höhere Schüler nicht einmal, weil die traditionelle grammatische Methode ihn daran verhindert. Und wenn er ein Zehntel dieser Zeit verwenden würde, um Übersetzungen der besten englischen und französischen Schriftsteller zu lesen, so wird er hundertmal mehr von dem Wesen und Charakter der betreffenden Völker erfahren, als durch das pedantische und geistlose Sprachstudium, das unsere Schulen zu Höhlen der Langeweile und des Stumpfsinnes macht. „Übersetzungen können das Original nicht ersetzen“, heißt es dagegen. Ja, wer von denen, die so sprechen, hat Ibsen, Tolstoi, Björnson oder Gorki im Original gelesen? Und dennoch haben diese Dichter über ganz Europa eine tiefgehende Wirkung ausgeübt, und zwar eine größere im fremden Lande, das sie nur aus Übersetzungen kannte, als in ihrer Heimat, der das Original zugänglich war.
Ich will keineswegs in Abrede stellen, daß die Kenntnis fremder Sprachen dem Kaufmann und Techniker, der außer Landes zu tun hat, von Nutzen ist. Aber ein solcher tut viel besser, die Sprachen, die er braucht, nach einer der praktischen Methoden zu lernen, welche das Bedürfnis ausgebildet hat, und welche so sehr viel schneller zum Ziele führen, als das sogenannte wissenschaftliche, d. h. völlig unpraktische Verfahren der Schule. Es hat aber keinen Sinn, für solche Bedürfnisse, die doch nur eine kleinere Anzahl
Wilhelm Ostwald: Wider das Schulelend. Akademische Verlagsgesellschaft m.b.H., Leipzig 1909, Seite 37. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wider_das_Schulelend.pdf/43&oldid=- (Version vom 1.8.2018)