der Schüler angehen, auch sämtliche anderen in Ansprach zu nehmen, und damit die halbe Schulzeit zu verderben. Vom Latein sage ich gar nichts, weil dafür überhaupt kein ernsthafter Grund anzuführen ist.
Schaffen wir dieses zwecklose und unverständige Sprachenlernen ab, so gewinnen wir die volle Hälfte der Schulzeit und haben alle Freiheit, solche Fächer zu entwickeln, deren Notwendigkeit allseitig anerkannt wird und die man nur aus Zeitmangel nicht einzuführen wagt. Aber damit wäre nur halbe Arbeit getan, denn wir müssen die Mittelschule von Grund aus umgestalten.
Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, warum die unterste Klasse im Gymnasium Sexta heißt, und nicht Nona, wie sie nach der Anzahl der Schuljahre heißen sollte? Sie heißt so, weil früher das Gymnasium eben nur sechs Klassen hatte, also in sechs Jahren zurückgelegt werden konnte. Jetzt sind es neun geworden, und unsere Jünglinge, bei denen die kritischen Zeiten der geistigen Reifung meist um das fünfzehnte Lebensjahr eintreten, müssen diese wichtigsten Jahre ihres Lebens in Formen und unter Verhältnissen zubringen, welche höchstens für Zehnjährige entschuldigt werden können, denn daß sie gerechtfertigt werden könnten, wage ich nicht zu behaupten. Ein Jahr nach dem anderen hat der gefräßige Humanismus aus der Lebenszeit unserer Jünglinge herausgeschnitten und sich angeeignet, und schon sind Stimmen ertönt, nach denen die berühmte „abgeschlossene Bildung“ noch ein weiteres Schuljahr erforderlich machen soll. Hier muß nach meiner persönlichen Überzeugung die Reform kräftigst einsetzen und die Mittelschuljahre auf fünf, höchstens
Wilhelm Ostwald: Wider das Schulelend. Akademische Verlagsgesellschaft m.b.H., Leipzig 1909, Seite 38. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wider_das_Schulelend.pdf/44&oldid=- (Version vom 1.8.2018)