weshalb er seiner Sonderbegabung, die um so mehr einseitig entwickelt zu sein pflegt, je größer die Begabung selbst ist, unterdrücken, und dadurch das Ziel verfehlen soll, welches ihm seine Natur gestellt hat, so hört man immer wieder die Antwort von der „harmonischen Bildung“. Er soll alle Lehrgegenstände ohne Unterschied aufnehmen, damit er sich eben diese sogenannte harmonische Bildung erwirbt.
Auch hier braucht man das Ideal nur ohne bengalische Beleuchtung oder Begriffsnebel zu betrachten, um alsbald zu begreifen, daß es ein Unsinn ist. Was soll es denn für einen Wert haben, daß alle jungen Menschen in ganz gleicher Weise in den gleichen Gebieten des Schulunterrichtes zu Hause sind? Damit man sie hernach nicht besonders herauszusuchen braucht, wenn man einen Dichter, einen Richter, einen Brückenbauer oder einen Naturforscher nötig hat? Man braucht die Frage nur zu stellen, um die Antwort zu haben. Jeder, der sich nur ein wenig im Leben umgesehen hat, weiß, daß die großen und ausgezeichneten Leistungen nur von solchen Menschen ausgeführt werden, welche eine leidenschaftliche und ganz einseitige Vorliebe gerade für eben diese Dinge von Jugend auf gehabt, und diese Vorliebe gegen alle Versuche, sie zu „harmonisch Gebildeten“ zu machen, siegreich durchgesetzt haben. Wenn man also das Ideal des harmonisch Gebildeten deshalb aufgestellt hat, weil man doch nicht voraus wissen könne, was aus dem jungen Menschen später wird, und man ihn darum auf alle möglichen Lebenslagen vorbereiten müsse, so erweist sich ein solcher Plan dem wirklichen Leben gegenüber als kindisch unzweckmäßig.
Wilhelm Ostwald: Wider das Schulelend. Akademische Verlagsgesellschaft m.b.H., Leipzig 1909, Seite 40. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wider_das_Schulelend.pdf/46&oldid=- (Version vom 1.8.2018)