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Bildung ist, so muß es eine Bildung sein, in welcher ein jeder Teil einem Hauptgedanken untergeordnet ist. Da ein jeder Mensch seinen Schwerpunkt an einer anderen Stelle des unbegrenzten Kulturgebietes hat, so besteht seine Harmonie eben darin, daß sich alle sekundären Teile seines Wesens dieser seiner persönlichen Hauptsache unterordnen. Einen Bauern, der die Eigenschaften von Acker und Vieh genau kennt und seinen Beruf erfolgreich ausübt, empfinden wir als einen harmonisch gebildeten Menschen. Ein Professor aber, der unaufhörlich den Widerspruch des heutigen Lebens mit seinem humanistischen Ideal beklagt, und beklagen muß, wenn er aufrichtig ist, ist in sich selbst eine Disharmonie, und er ist eine Disharmonie in der heutigen Kulturwelt.

Wir sehen also, daß wir sogar das wohlklingende Wort von der harmonischen Bildung aufnehmen können, und bei der sachgemäßen Deutung seines Inhaltes wieder auf denselben Punkt gelangen, den wir früher auf ganz anderem Wege erreicht hatten, nämlich dazu, daß in erster Linie die besonderen Begabungen des Schülers Aufmerksamkeit und Pflege beim Unterricht verlangen. Die Vorstellung von der Harmonie, daß sie in gleicher Größe der zusammensetzenden Teile bestehe, ist von allen möglichen die engste und stumpfsinnigste; faßt man die Harmonien ins Auge, die der gegenwärtige, entwickelte Mensch als solche empfindet, so haben wir als Ziel der Erziehung den Menschen mit stark entwickeltem natürlichen Schwerpunkt, um den sich seine anderen Kenntnisse und Fertigkeiten harmonisch, d. h. nach Maßgabe ihres Verhältnisses zu jenem, entwickelt haben.

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Wilhelm Ostwald: Wider das Schulelend. Akademische Verlagsgesellschaft m.b.H., Leipzig 1909, Seite 42. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wider_das_Schulelend.pdf/48&oldid=- (Version vom 1.8.2018)