wo ein jedes Stück zehn Pfennige kostet. So behandeln wir auch unsere Kinder in der Schule: jedem wird das gleiche Maß Wissen vorgelegt und hernach wieder abverlangt. Beachtet man, daß eine derartige willkürliche Gleichsetzung verschiedener Dinge gerade in neuerer Zeit sich mehr und mehr durchsetzt, so wird man vielleicht geneigt sein, das Verfahren der Schule als besonders modern anzuerkennen, wenn man auch im Herzen nicht damit einverstanden ist.
Wann aber führen wir solche Durchschnittsbehandlung verschiedener Dinge ein? Die Antwort ist in jedem Falle die gleiche: wenn es sich nicht lohnt, auf die Verschiedenheiten acht zu geben. Die Arbeit, welche es kosten würde, die Beförderungsgebühren der Briefe je nach der Entfernung abzustufen, wäre so groß, daß sie aus dem geringen Porto nicht bezahlt werden könnte, und ebenso verhält es sich in allen anderen Fällen.
Nun, sollen wir unsere Kinder unter dem Gesichtspunkte behandeln lassen, daß es sich nicht lohnt, auf die Verschiedenheiten ihrer Begabung und geistigen Beschaffenheit Rücksicht zu nehmen? Man braucht diese Frage nur zu stellen, um die Antwort zu haben. Wenn irgendwo die individuelle Behandlung lohnend ist, so ist sie es in diesem Falle. Denn die höchsten Leistungen, von deren Beschaffenheit die Stellung eines jeden Volkes in der Welt abhängig ist, werden von den Sonderbegabten ausgeführt, nicht von den Durchschnittlichen. Statt also den Grundsatz aufzustellen und durchzuführen, daß die Schule für die Durchschnittlichen
Wilhelm Ostwald: Wider das Schulelend. Akademische Verlagsgesellschaft m.b.H., Leipzig 1909, Seite 45. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wider_das_Schulelend.pdf/51&oldid=- (Version vom 1.8.2018)