da sei, und die Sonderbegabten sich diesen anzupassen hätten, ist vielmehr der Grundsatz durchzuführen, daß vor allen Dingen jede Sonderbegabung die aufmerksamste Pflege verdient, weil sie sie lohnt. Dann wird die Schule nicht mehr den schwersten aller Vorwürfe zu dulden haben, daß nämlich ihre besondere Anerkennung nahezu mit Sicherheit beim Schüler Untauglichkeit zu ausgezeichneten Kulturleistungen erwarten läßt.
Dann endlich wird auch die Vorstellung fallen, daß die geistige Reife des Schülers durch die Abfragung gedächtnismäßigen Wissens festgestellt werden könnte. Wenn ich unter den mancherlei Mängeln unserer Welt, insbesondere der deutschen Welt, etwas bezeichnen soll, was mich mit beständig wachsendem Ingrimm erfüllt, so ist es das Abiturientenexamen. Ich müßte eine Zeit anwenden, die noch viel länger ist, als die, welche ich bereits beansprucht habe, um alle die Schädigungen auch nur anzudeuten, welche durch diese unglückseligste und zweckwidrigste aller Schulerfindungen hervorgerufen werden. Wenn man einen Preis darauf setzen wollte, etwas auszudenken, wodurch wir das kostbarste Gut eines jeden Volkes, Selbständigkeit des Denkens und Freudigkeit der Arbeit bei der Jugend, am sichersten und gründlichsten vernichten könnte, so müßte der Erfinder des Abiturientenexamens diesen Preis erhalten. Daß die Schule, welche neun Jahre hindurch den Schüler geführt hat, nach Ablauf dieser Zeit noch nicht einmal imstande ist, ihn so weit zu beurteilen, daß sie über den Abschluß des Unterrichtes entscheiden kann, ist ein solcher Widersinn, wie er eben nur bei einer durch und durch unwissenschaftlichen
Wilhelm Ostwald: Wider das Schulelend. Akademische Verlagsgesellschaft m.b.H., Leipzig 1909, Seite 46. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wider_das_Schulelend.pdf/52&oldid=- (Version vom 1.8.2018)