Seite:Wilamowitz Geschichte der griechischen Sprache 08.jpg

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aber sehr zu beherzigen, daß Aristoteles diesen Standpunkt vertritt, wenn er sagt, daß die Tragödie einmal ἔσχε τὴν ἑαυτῆς φύσιν, daß sie einmal geworden ist, was sie sein kann und sein soll. Dann muß sie auch so bleiben. Und wenn Platons Staat einmal verwirklicht ist, kann und darf es auch keinen Fortschritt geben. Es ist das im tiefsten Wesen der Hellenen begründet und gehört daher zusammen, das Streben nach Stil, nach Harmonie und Schönheit, und dies Ausruhen und sich bei der erreichten Vollkommenheit Bescheiden, wo es denn kein Fortschreiten gibt. τέλος ist das Ziel, die Vollendung, aber es ist auch das Ende[1].

Jeder weiß, wie stark diese eingeborne hellenische Art sich auch in den bildenden Künsten fühlbar macht, in wie weitem Umfange Architektur und Skulptur bei dem Variieren und Kopieren klassischer Vorbilder beharrt, und auch das Lehrbuch des Architekten Vitruv ist von diesem Geiste belebt. Allein das neue Leben der Kaiserzeit stellte der Baukunst neue Aufgaben und trieb so zu neuen großen Lösungen; es kommt auch in die anderen Künste, soweit sie der Gegenwart dienen, ein neuer Geist. Da darf man aber weder von römischer noch von griechischer Kunst reden, denn es ist Reichskunst, und das Reich mit seiner Kultur ruht auf beiden Nationen, der italischen (durchaus nicht der römischen) und der hellenischen. Weil sich in dieser der nur äußerlich hellenisierte orientalische Geist allmählich vordrängte, ist es schließlich zu Neubildungen in Staat und Glauben gekommen, ist dem auch die Kunst gefolgt. Bei den Byzantinern zeigt sich wiederum die Kanonisierung eines als vollkommen anerkannten Vorbildes und dementsprechend die Erstarrung.


  1. Vergleichbar ist der Ciceronianismus, der im 15. Jahrhundert das bis dahin lebendige Latein durch die Nachahmung einer anerkannten Vollkommenheit verdrängt und damit seiner Weltgeltung ein Ende bereitet, das selbst die katholische Kirche nicht abwenden kann.