Seite:Wilamowitz Geschichte der griechischen Sprache 15.jpg

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Gesetze zuerst den Imperativ, finden ihn auch in Chios, einzeln auch anderswo, in Athen noch einmal in der Hekatompedoninschrift kleisthenischer Zeit. Überwiegend aber steht überall der imperativische Infinitiv, der doch in der Literatursprache, wo er vorkommt, eine besondere Nuance zu haben pflegt. Gehalten hat er sich in der Grußformel χαίρειν des Privatbriefes[1], dem doch der älteste attische Brief ein ἐπέστειλε vorausschickt, aber dann seiner Bitte die Form gibt στέγασμα ἀποπέμψαι[2]. Noch auffallender ist im Nachsatze der Indikativ des Futurums, obgleich wir, die kein wirkliches Futurum haben, sehr gut sagen können: „Wer dies Feld betritt, wird polizeilich bestraft.“ Wenn es auf Astypalaia heißt: ἐς τὸ ἱερὸν μὴ ἐσέρπεν ὅστις μὴ ἁγνός ἐστι (wo der Indikativ schon auffällt), ἢ τελεῖ ἢ αὐτῶι ἐν νῶι ἐσσεῖται[3], ist das zweite Futurum berechtigt, da die Reue nicht befohlen werden kann. Aber wenn die Kyrenäer sagen: „Wenn einer ein verbotenes Opfer gebracht hat, wird er den Altar reinigen usw.“, und so häufig, so ist da eine Form des Gebotes durchgedrungen, die von der sonstigen Gesetzessprache völlig abweicht.

Alle die Steine, von denen ich hier etwas nahm, geben noch die Sprache des Lebens wieder, und sie hat noch keine feste Form erhalten: gerade darin liegt der besondere Wert. Erreicht ist eine scharfe juristische Durchbildung auch in Gortyn noch nicht, aber Bücheler hat gleich bei der Entdeckung bemerkt, daß dort doch der Versuch gemacht ist, einen festen und durchgebildeten Stil zu schreiben. Das ist mehr als dreißig Jahre her, aber weder der Stil


  1. Eupolis (Suid. χαίρειν) wirft dem Kleon vor, daß er an den Rat χαίρειν geschrieben habe, d. h. die Form des Privatbriefes in einem offiziellen Berichte angewandt.
  2. Sylloge 1259. Später würde es gelautet haben καλῶς ποιήσεις ἀποπέμπων.
  3. IG XII 3, 183.