Seite:Wilamowitz Geschichte der griechischen Sprache 38.jpg

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einheitliches Kretisch entsteht, selbst als es ein κοινὸν Κρηταέων gibt. Der Verfall der Sprache ist stark; alles macht sie dem Grammatiker besonders interessant. Mit der römischen Herrschaft versinkt die Insel ins Dunkel. Kein Zweifel, daß die Volkssprache in den Bergen dauerte; so mag manches Wort noch heute leben. Ganz anders stand es um die Doris von Knidos, Kos und Rhodos[1], die an Wohlstand und Bildung in der ersten Reihe standen. Eben darum schrieben ihre Bürger keine Bücher im Dialekt, wohl aber noch Timachidas die Tempelchronik von Lindos[2]. Die Blüte von Knidos war kurz, die von Kos zerstört der Tyrann Nikias; es hat sich niemals ganz erholt, und auf die sprachliche Färbung der späteren Ehreninschriften kommt nichts an. Aber Rhodos blieb ansehnlich und hielt an einer Doris fest, die der Volkssprache noch in der Kaiserzeit entsprochen haben wird. Gerade diese Doris wird den übrigen Griechen am leichtesten verständlich gewesen sein, denn sie enthält kaum anstößige Laute[3], hat die Härten in vielem gemildert, und da der geistige Einfluß des früher entwickelten Ioniens stark gewesen war, der Verkehr des großen Handelsplatzes nach allen Seiten ging, war auch der Wortschatz ziemlich ausgeglichen.

Im Westen hatten die ionischen, achäischen, lokrischen Städte ihre Sprachen eingebüßt; höchstens Neapel hat sich der Doris entzogen, die wir nach spärlichen Proben sonst überall voraussetzen können. Nach dem Fall von Syrakus hört alles literarische Leben in Westhellas auf, wenn die

  1. Halikarnassos war der Doris verloren gegangen. Man schreibt nach Kos panhellenisch, die Antwort ist dorisch, koische Inschrift 63 Paton.
  2. Aber die berühmte astronomische Inschrift bietet ἡ μοῖρι στιγμῶν, IG XII 1, 913.
  3. Nur die kaum begreiflichen Nominative Ἑρμοκρηυν u. dgl. sind singulär; daß sie sich bisher auf Rhodos selbst nicht gefunden haben, verschlägt nichts, denn die abhängigen kleinen Inseln haben keine eigene Sprache.