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gehen. Aber die Gäste ließen ihn nicht fort und nötigten ihn zum Sitzen.

Da begann der älteste Schwager: „Ich will mit dem Reimen anfangen. Ich sage:

Am Himmel stolz der Phönix fliegt,
Auf Erden zahm das Schäflein liegt,
Am Tische les ich alte Weise,
Im Zimmer ruf der Magd ich leise.“

Der zweite fuhr fort: „Und ich sage:

Am Himmel fliegt die Turteltaube,
Auf Erden wühlt der Ochs im Staube,
Am Tisch studiert man, was gewesen,
Im Zimmer führt die Magd den Besen.“

Der dritte Schwiegersohn aber stotterte und brachte nichts hervor. Als alle ihn nötigten, da brach er mit grobem Ton heraus:

„Am Himmel fliegt – eine Bleikugel,
Auf Erden geht – ein Tigertier,
Am Tische liegt – eine Schere,
Im Zimmer ruf ich – dem Stallknecht.“

Die beiden Schwäger klatschten in die Hände und begannen laut zu lachen.

„Die vier Zeilen reimen sich ja gar nicht“, sagten sie, „und außerdem ist kein Sinn darin. Eine Bleikugel ist doch kein Vogel, der Stallknecht tut seine Arbeit draußen, willst du ihn etwa zu dir ins Zimmer hereinrufen? Unsinn, Unsinn! Trink’ aus!“

Aber noch ehe sie fertig geredet hatten, da hob die dritte Tochter den Vorhang des Frauengemachs und trat heraus. Sie war ärgerlich, konnte aber doch ein Lächeln nicht unterdrücken.

„Wieso haben wir keinen Sinn in unseren Zeilen?“ sagte sie. „Hört nur zu, ich will’s euch erklären: Am Himmel die Bleikugel wird euren Phönix und eure Turteltaube totschießen. Auf Erden das Tigertier wird euer Schaf und euren Ochsen fressen. Am Tisch die Schere wird all eure

Empfohlene Zitierweise:
Richard Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. Eugen Diederichs, Jena 1914, Seite 6. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_ChinVolksm_006.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)