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„Er ist ein Glückskind“, sagte die Prinzessin, „ich will ihn heiraten, vielleicht bekomme ich dann Teil an seinem Glück.“

Der Vater aber wollte das nicht leiden, und als sie standhaft blieb, da trieb er sie im Zorn aus dem Schlosse.

So mußte die Prinzessin mit dem Bettler ziehen. Sie wohnte mit ihm in seiner kleinen Hütte und mußte Kräuter und Wurzeln suchen und selber kochen, damit sie nur etwas zu essen hatten, und oftmals hungerten sie auch beide.

Eines Tages sprach der Mann zu ihr: „Ich will ausziehen und mein Glück versuchen. Wenn ich’s gefunden habe, will ich wiederkommen und dich holen.“ Die Prinzessin sagte ja, und er ging weg. Achtzehn Jahre blieb er weg. Und die Prinzessin lebte in Not und Kümmernis; denn ihr Vater blieb hart und unerbittlich. Wenn ihre Mutter nicht im stillen ihr Geld und Nahrung zugesteckt, so wäre sie wohl gar Hungers gestorben in der langen Zeit.

Der Bettler aber fand sein Glück und wurde schließlich Kaiser. Er kam zurück und trat vor seine Frau. Die aber kannte ihn nicht mehr. Sie wußte nur, daß er der mächtige Kaiser war.

Er fragte sie, wie es ihr gehe.

„Warum fragt Ihr mich, wie es mir geht?“ erwiderte sie. „Ich bin doch viel zu gering für Euch.“

„Und wer ist denn dein Mann?“

„Mein Mann war Bettler. Er ging hinweg, sein Glück zu suchen. Nun sinds schon achtzehn Jahre, und er ist immer noch nicht zurück.“

„Was tust du denn in dieser langen Zeit?“

„Ich warte auf ihn, bis er wiederkommt.“

„Willst du nicht einen andern zum Manne nehmen, da er so lange ausbleibt?“

„Nein, ich bleibe seine Frau bis in den Tod.“

Als der Kaiser die Treue seiner Frau sah, da gab er sich ihr zu erkennen, ließ sie in prächtige Gewänder kleiden

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Richard Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. Eugen Diederichs, Jena 1914, Seite 12. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_ChinVolksm_012.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)