Seite:Wilhelm ChinVolksm 023.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

ihr: „Du sollst meine Großmutter sein!“ Und es ging zu seiner Mutter und sagte: „Draußen ist eine Bettlerin, die will ich als Großmutter haben.“ Die Mutter wars zufrieden und rief sie ins Haus. Die Alte aber war sehr schmutzig und voll von Ungeziefer. Da sagte der Junge zu seiner Mutter: „Komm, wir wollen die Großmutter waschen!“ So wuschen sie die Frau. Die aber hatte sehr viele Läuse. Die suchten sie alle und taten sie in einen Topf. Der ganze Topf ward voll davon. Da sprach die Großmutter: „Werft sie nicht weg; vergrabt sie im Garten! Und ihr sollt sie erst wieder ausgraben, wenn das große Wasser kommt.“

„Wann kommt denn das große Wasser?“ fragte der Knabe.

„Wenn den zwei steinernen Löwen vor dem Gefängnis die Augen rot werden, dann kommt das große Wasser“, sagte die Großmutter.

Da lief der Knabe zu den Löwen, aber ihre Augen waren noch nicht rot. Die Großmutter sprach auch zu ihm: „Mach ein kleines Schiff aus Holz und verwahre es in einem Kästchen!“ Das tat der Junge. Jeden Tag lief er nun zum Gefängnis und sah die Löwen an, also daß die Leute auf der Straße sich darüber verwunderten.

Eines Tages, als er beim Hühnerschlächter vorbeikam, fragte ihn der, warum er immer zu den Löwen laufe. Da sagte der Junge: „Wenn den Löwen die Augen rot werden, so kommt das große Wasser.“ Der Schlächter aber lachte ihn aus. Und am andern Morgen in aller Frühe nahm er Hühnerblut und strich es den Steinlöwen auf die Augen. Als der Junge sah, daß die Löwen rote Augen hatten, lief er schnell nach Hause und sagte es seiner Mutter und Großmutter. Da sprach die Großmutter: „Grabt nun rasch den Topf aus und holt das Schifflein aus dem Kasten!“ Als sie den Topf ausgruben, waren lauter echte Perlen darin, und das Schiff wurde größer und größer, wie ein wirkliches Schiff. Die Großmutter sprach: „Nehmt den Topf mit euch und steigt in das Schiff! Wenn nun das

Empfohlene Zitierweise:
Richard Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. Eugen Diederichs, Jena 1914, Seite 23. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_ChinVolksm_023.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)