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die Wolkenseide und waltet über die Näharbeiten der Mädchen auf Erden. Darum heißt sie die Spinnerin. Wenn du hingehst und ihr die Kleider wegnimmst, kannst du ihr Mann werden und erlangst die Unsterblichkeit.“

„Das ist ja im Himmel“, sagte der Kuhhirt, „wie kann man da hinkommen?“

„Ich will dich hintragen“, antwortete die gelbe Kuh.

Da stieg der Kuhhirt auf den Rücken der Kuh. Im Nu strömten aus ihren Füßen Wolken hervor, und sie erhob sich in die Lüfte. Es schwirrte ihm um die Ohren wie der Ton des Windes, und sie fuhren dahin, schnell wie der Blitz. Plötzlich hielt die Kuh an.

„Nun sind wir da“, sagte sie.

Da sah er rings umher Wälder von Chrysopras und Bäume von Nephrit. Das Gras war aus Jaspis und die Blumen aus Korallen. Inmitten dieser Pracht lag ein hundert Morgen großer viereckiger See. Grüne Wasser wallten wogend, und goldschuppige Fische schwammen darin umher. Dazu gab es unzählige Zaubervögel, die singend auf und nieder flogen. Schon von ferne sah er die neun Mädchen im Wasser. Ihre Kleider hatten sie alle am Ufer abgelegt.

„Nimm rasch die roten Kleider“, sagte die Kuh, „und verstecke dich damit im Walde, und wenn sie dich noch so zärtlich darum bittet, so gib sie ihr nicht eher zurück, als bis sie dir versprochen hat, deine Frau zu werden.“

Da stieg der Kuhhirt eilends vom Rücken der Kuh herunter, nahm die roten Kleider und lief hinweg. In diesem Augenblick wurden die neun Mädchen seiner gewahr. Sie erschraken sehr.

„Woher kommst du, Jüngling, daß du es wagst, unsere Kleider zu nehmen“, sagten sie. „Lege sie schnell wieder hin!“

Aber der Kuhhirt ließ sich’s nicht anfechten, sondern duckte sich hinter eine der nephritnen Blumen. Da kamen

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Richard Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. Eugen Diederichs, Jena 1914, Seite 32. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_ChinVolksm_032.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)