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der neunschwänzige Fuchs einen Zauberwind, in dem er Dagis Seele entführte. Dann nahm er Besitz von ihrem Leib, und obwohl er seinem Wesen nach ein lasterhafter Fuchs blieb, änderte sich das Angesicht des Mädchens nicht. Als der König Dschou-Sin sie erblickte, ward er hocherfreut, und sie erlangte außerordentliche Gunst. Er trank mit ihr zusammen Wein und ergötzte sich mit ihr, und die Regierung ward ihm Nebensache.

Die treuen Diener, die zu widersprechen wagten, wurden auf grausame Weise zu Tode gemartert. Man ließ sie glühende Öfen umarmen oder auf dünnen Stangen, die mit Fett bestrichen waren, über Gräben mit lohendem Feuer wandeln. Keine Grenzen kannte nun der Wüstling mehr in seiner Verschwendung. Er baute einen Turm, der bis an die Sterne reichte, ließ Seen graben und mit Wein füllen und in den Wäldern Fleisch aufhängen. Jünglinge und Mädchen mußten hier nackt einander haschen vor den Augen des Königs und seiner Gemahlin.

Einst saßen sie auf dem Turm und sahen, wie ein alter und ein junger Mann einen Fluß durchwateten. Der junge machte ängstlich Schritt vor Schritt und zitterte vor Frost, während der alte, ohne Kälte zu fühlen, beherzt voranschritt. Der König wunderte sich, aber seine Gattin sprach: „Das geht auf ganz natürliche Weise zu. Der alte ist zu einer Zeit geboren, da seine Eltern noch jung waren, darum hat er festes Mark in den Knochen und friert nicht. Der junge aber, der seinen Eltern in hohem Alter geboren wurde, hat nicht genügend Lebenskraft mitbekommen, darum sind seine Knochen hohl, und er fröstelt.“ Man rief die beiden her, und es verhielt sich so mit ihrer Geburt, wie Dagi gesagt hatte. Damit noch nicht genug, ließ sie ihnen aber auch die Beine aufschlagen, um nach dem Mark in ihren Knochen zu sehen. – So trieb sie tausend Grausamkeiten.

Als einst ein Oheim des Königs, Bigan, der wegen seiner Weisheit allgemein geachtet war, ihm Vorwürfe machte,

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Richard Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. Eugen Diederichs, Jena 1914, Seite 53. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_ChinVolksm_053.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)