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33. Die beiden Scholaren

Es waren einmal zwei Scholaren. Der eine hieß Liu Tschen, und der andere hieß Yüan Dschau. Die waren beide jung und schön. An einem Frühlingstage gingen sie miteinander in das Tiän Tai-Gebirge, um Heilkräuter zu pflücken. Da kamen sie an einen Berghang, wo auf beiden Seiten die Pfirsichbäume in üppiger Blüte standen. Mitten drin öffnete sich eine Höhle, da standen zwei Jungfrauen unter den blühenden Bäumen, die eine in roten Kleidern, die andere in grünen. Die waren über alle Maßen schön. Sie winkten den beiden Scholaren mit der Hand.

„Seid ihr da?“ fragten sie. „Wir haben lange auf euch gewartet.“

Dann führten sie sie in die Höhle und warteten ihnen mit Tee und Wein auf.

„Ich bin für den Herrn Liu bestimmt,“ sagte die Jungfrau im roten Gewand, „und meine Schwester für den Herrn Yüan.“

So wurden sie Mann und Frau. Täglich betrachteten sie die Blumen oder spielten Schach, so daß die beiden ganz der Erdenwelt vergaßen. Sie sahen nur, wie draußen vor der Höhle die Pfirsichblüten bald sich öffneten, bald wieder fielen. Auch fühlten sie unvermutet oft kalt, oft warm, so daß sie jederzeit die Kleider wechseln mußten. Die beiden fanden das im stillen wunderbar.

Eines Tages plötzlich kam sie Heimweh an. Die beiden Mädchen wußten schon darum.

„Wenn euch Herren erst das Heimweh aufsteigt, kann man euch nicht länger halten“, sagten sie.

Am Tage darauf bereiteten die Mädchen ein Abschiedsmahl; dann gaben sie noch Zauberwein den beiden mit und sprachen: „Wir sehen uns wohl wieder. Zieht nur hin!“

Empfohlene Zitierweise:
Richard Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. Eugen Diederichs, Jena 1914, Seite 76. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_ChinVolksm_076.jpg&oldid=- (Version vom 30.5.2018)