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Unter Tränen nahmen die Scholaren Abschied.

Als sie nach Hause kamen, da waren Tor und Türen längst verschwunden. Die Leute in dem Dorfe waren ihnen alle unbekannt. Sie drängten sich um sie und fragten, wer sie wären.

„Wir sind Liu Tschen und Yüan Dschau“, antworteten sie. „Wir gingen ins Gebirg und suchten Kräuter. Es mag wohl ein paar Tage her sein.“

Da kam mit schnellen Schritten ein Diener hergeeilt und sah sie lange an. Endlich fiel er hocherfreut vor Liu Tschen nieder und sagte: „Ja, Ihr seid wirklich mein Herr. Seit Ihr weggingt und uns im ungewissen ohne Nachricht ließet, ists nun wohl siebzig Jahre oder mehr.“

Darauf zog er den Scholaren Liu zu einem hohen Tore, das mit Buckeln und einem Ring im Löwenmaule reich verziert war, wie es bei hohen Herrschaften so Sitte ist.

Als er in den Saal trat, da kam eine alte Frau mit weißem Haar und krummem Rücken auf einen Stab gestützt hervor und fragte: „Was ist das für ein Mann?“

„Unser Herr ist wieder da“, erwiderte der Knecht. Und dann, zu ihm gewendet, fügte er hinzu: „Das ist die gnädige Frau. Sie ist schon hundert Jahre alt. Zum Glück ist sie noch kräftig und wohlauf.“

Der alten Frau traten vor Freuden und Kummer die Tränen in die Augen.

„Seit du weggingst unter die Unsterblichen, dachte ich, wir würden uns in diesem Leben nicht mehr wiedersehen“, sagte sie. „Welch großes Glück, daß du nun doch wiedergekommen bist!“

Noch ehe sie ausgeredet hatte, da kam die ganze Familie, Männer und Frauen, herbeigeströmt und begrüßten ihn in dichtem Gedränge draußen vor dem Saal.

Die Frau deutete einzeln auf sie und sagte: „Das ist der und der, das ist die und die.“

Als damals der Scholar verschwunden war, da hatte er nur ein winziges Knäblein hinterlassen, erst ein paar Jahre

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Richard Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. Eugen Diederichs, Jena 1914, Seite 77. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_ChinVolksm_077.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)