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gab ihm ein Beil und hieß ihn mit den andern hinausgehen, um Reisig zu sammeln. Wang tat eifrig, wie ihm gesagt.

Ein guter Monat war vergangen. Seine Hände und Füße waren voll Beulen und Schwielen. Er hielt es fast nicht mehr aus und erwog im geheimen den Gedanken an die Rückkehr.

Eines Abends kamen sie heim. Da sahen sie zwei Männer mit ihrem Meister beim Weine sitzen. Die Sonne war schon untergegangen, doch waren Lampen und Kerzen noch nicht angezündet. Da schnitt der Meister mit der Schere aus Papier eine runde Scheibe wie einen Spiegel. Die klebte er an die Wand. Plötzlich leuchtete der Mond an der Wand auf mit so hellem Schein, daß man das kleinste Härchen sehen konnte. Alle Schüler eilten herbei und hörten im Kreise den Alten zu.

Der eine der Gäste sprach: „An einem solchen schönen Abend, wo die Freude siegt, muß man gemeinsam genießen.“

Damit nahm er eine Kanne Wein vom Tisch, den Schülern Wein auszuteilen. Und er redete ihnen zu, sie sollten ordentlich trinken.

Wang dachte bei sich: „Für sieben, acht Leute soll eine Kanne Wein ausreichen!“ Sie eilten alle, Becher zu holen, und drängten sich herzu, um zuerst an die Reihe zu kommen, nur besorgt, die Kanne möchte sich leeren. Aber er goß und goß, und der Wein wurde nicht weniger. Darüber wunderte sich Wang im stillen.

Nun sprach der zweite Gast: „Du hast uns einen schönen Mondschein verschafft; aber wir trinken da so still vor uns hin. Wie wärs, wenn wir die Mondfee riefen?“

Damit nahm er ein Eßstäbchen und warf es in die Mondscheibe. Da sah man ein schönes Mädchen aus dem Glanze hervorkommen. Erst war sie kaum einen Fuß hoch; als sie die Erde berührte, erreichte sie Menschengröße. Schlanke Hüften, ein zierliches Hälschen, wallende Gewänder: so tanzte sie den Regenbogentanz. Dann begann sie zu singen:

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Richard Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. Eugen Diederichs, Jena 1914, Seite 80. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_ChinVolksm_080.jpg&oldid=- (Version vom 22.6.2020)