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„Ihr wollt entfliehen, Unsterbliche alle,
Mich einsam verlassen in eisiger Halle!“

Ihre Stimme klang rein und klar wie eine Flöte. Nachdem das Lied zu Ende war, erhob sie sich wirbelnd und sprang auf den Tisch. Während alle erstaunt nach ihr hinblickten, war sie schon wieder zum Eßstäbchen geworden.

Die drei Alten brachen in lautes Gelächter aus.

Da sagte wieder einer der Gäste: „Wir sind heut abend recht fröhlich zusammen. Doch werd ich des Weines nicht länger Herr. Wie wäre es, wenn ihr mich zum Abschiedstrunk ins Mondschloß begleitetet?“

Die drei verließen nun ihre Matten und gingen allmählich in den Mond hinein. Die Schüler alle sahen die drei im Monde sitzen. Bart und Augenbrauen, alles sah man deutlich wie ein Spiegelbild.

Nach einiger Zeit wurde der Mond allmählich trübe. Die Schüler gingen, um Licht zu machen. Als sie wiederkamen; saß der Priester allein da, die Gäste waren verschwunden, aber die Reste des Essens lagen noch auf dem Tisch. Der Mond an der Wand hing noch da als rundes Stück Papier.

Der Priester fragte sie: „Habt ihr genug getrunken?“

Sie sagten: „Genug.“

„Nun, wenn ihr genug habt, so müßt ihr früh schlafen gehen, damit ihr die Arbeit morgen nicht versäumt.“

Die Schüler zogen sich gehorsam zurück. Wang ward durch diese Sache aufs neue ermutigt, und die Heimwehgedanken verschwanden.

Wieder verging ein Monat. Die Mühen waren unerträglich, und der Priester hatte ihm nicht ein einziges Geheimnis überliefert.

Da hielt ers nicht mehr länger aus, sondern verabschiedete sich: „Hundert Meilen weit bin ich hergekommen, um Eure Belehrung zu empfangen. Nun sehe ich, daß ich das Geheimnis der Unsterblichkeit doch nicht erlangen kann. Doch hättet Ihr mir vielleicht irgend etwas Kleineres mitteilen können, um mein lernbegieriges Gemüt

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Richard Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. Eugen Diederichs, Jena 1914, Seite 81. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_ChinVolksm_081.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)