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zu befriedigen. Zwei, drei Monate sind vergangen ohne andere Beschäftigung, als morgens hinauszugehen ins Reisigsammeln und abends müde heimzukommen. Ein solches Leben war ich zu Hause nicht gewöhnt.“

Der Priester sagte lächelnd: „Ich hab dirs ja gleich gesagt, daß du der harten Arbeit nicht gewachsen seist. Nun ist es wirklich so. Morgen früh will ich dich entlassen.“

Wang sprach: „Ich habe Euch lange gedient, Ihr könntet mir wenigstens ein kleines Kunststück mitteilen, daß ich nicht ganz umsonst gekommen bin.“

„Und welches Kunststück möchtest du denn lernen?“ fragte der Priester.

„Wenn ich Euch gehen sah, so merkte ich, daß Wände und Mauern Euch nicht behindern können. Wenn ich nur dieses Kunststück könnte, so wäre ich schon zufrieden.“

Der Priester sagte lächelnd zu und lehrte ihn einen Zauberspruch, mit dem Wang sich segnen mußte.

Dann rief er: „Nun zu!“

Wang stand mit dem Gesicht nach der Wand, aber wagte nicht hineinzugehen.

Der Priester sprach: „Probier es doch, hineinzugehen!“

Da ging er gemächlich auf die Wand zu, aber sie hielt ihn auf.

Der Priester sprach: „Du mußt den Kopf neigen und einfach frisch drauf losrennen ohne ängstliches Bedenken.“

Wang nahm einen Anlauf von einigen Schritten und rannte auf die Wand zu. Als er an die Wand kam, da gab sie nach, als wäre nichts an der Stelle. Er blickte sich um, und richtig war er draußen. Da war er hocherfreut, ging wieder hinein und bedankte sich.

Der Priester sprach: „So, nun geh heim! Du mußt es aber vorsichtig wahren, sonst verliert sich die Kraft.“

Darauf gab er ihm Wegzehrung und entließ ihn.

Zu Hause angekommen, rühmte sich Wang, daß er einen Heiligen getroffen habe, und daß die stärksten Wände

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Richard Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. Eugen Diederichs, Jena 1914, Seite 82. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_ChinVolksm_082.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)