Seite:Wilhelm ChinVolksm 107.jpg

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Der Knecht ließ den Pflug stehen, verneigte sich und sprach: „Ihr seid lange nicht gekommen, Herr. Das Dorf ist nicht weit von hier. Ich will Euch den Weg zeigen.“

Sie kamen über einen Berg. Unten an dem Berge floß ein Bach. Als sie den Bach überschritten, mußten sie wieder einen Berg hinauf. Allmählich änderte sich die Gegend. Vom Gipfel aus zeigte sich ein Tal, in der Mitte eben, von schroffen Bergen umschlossen und von grünen Bäumen beschattet, zwischen denen Häuser und Türme hervorlugten. Das war das Landhaus des alten Dschang. Vor dem Dorfe floß ein tiefer Bach mit blauem, klarem Wasser. Sie gingen über eine steinerne Brücke, dann kamen sie an das Tor. Blumen und Bäume standen in dichtem Gewirr. Pfauen und Kraniche flogen umher. Von weitem hörte man Flöten- und Saitenspiel. Reine Töne stiegen zu den Wolken auf. Ein Bote in purpurnem Kleid empfing den Gast am Tor und führte ihn in einen Saal, der überaus herrlich war. Fremde Düfte füllten die Luft, und Perlenglöckchen klangen. Zwei Dienerinnen kamen heraus und begrüßten ihn. Ihnen folgten zwei Reihen schöner Mädchen in langem Zuge. Hinter ihnen kam ein Mann in einem weichen Turban, in Scharlachseide gekleidet, in roten Pantoffeln, schwebend heran. Der Gast begrüßte ihn. Er war ernst und würdevoll und dabei doch jugendlich frisch. Erst kannte er ihn nicht; als er aber näher zusah, da wars der alte Dschang. Der sagte lächelnd: „Ich freue mich, daß du den weiten Weg nicht gescheut hast. Deine Schwester kämmt sich eben die Haare. Sie wird dich gleich empfangen.“ Dann ließ er ihn sitzen und Tee trinken.

Nach einer kleinen Weile kam eine Dienerin und führte ihn in die hinteren Gemächer zu seiner Schwester. Die Balken ihres Gemachs waren aus Sandelholz, die Türen aus Schildpatt, die Fenster mit blauem Jaspis eingelegt, die Vorhänge aus Perlenschnüren, und die Stufen waren aus grünem Nephrit. Seine Schwester war prächtig gekleidet

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Richard Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. Eugen Diederichs, Jena 1914, Seite 107. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_ChinVolksm_107.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)