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Mutter zu sehen. Da löschten die Schergen die Lampen vor ihren Augen und lösten ihre Zunge. Als Muliän seine Mutter erblickte, warf er sich schluchzend vor ihr nieder, und auch die Mutter weinte und sprach: „Ich bin sehr hungrig.“ Muliän brachte ihr in seiner Almosenschale Essen dar. Aber wie sie es schlucken wollte, da schlug das Feuer in ihrem Leib ihr zum Munde heraus, so daß sie nichts zu sich nehmen konnte. Darauf schleppten die Schergen sie wieder in die Hölle zurück und schlossen die Tür hinter ihr zu.

Muliän war schmerzlich ergrimmt und schlug aus aller Kraft mit seinem Eisenstabe gegen die Kerkertür, bis sie barst. Dann nahm er seine Mutter auf den Rücken und trug sie zum Himmel empor. Aber hinter ihm drängten sich Hunderttausende von hungrigen Teufeln nach, die sich nach allen Richtungen zerstreuten und sich wieder ins Leben stahlen. Der schrankenlosen Kraft eines Buddha wagte der Totengott sich nicht entgegenzusetzen; doch ließ er durch den Gott des Großen Berges dem Herrn des Himmels Meldung machen. Der entschied: „Muliän hat seine Mutter gerettet. Dabei zeigte er eine lobenswerte kindliche Gesinnung. Deshalb soll seiner Mutter verziehen sein. Er hat aber auch die eingesperrten Verbrecher alle herausgelassen, die über die lebenden Menschen Unheil bringen. Darum muß Muliän auf die Erde hinunter, um alle die hungrigen Teufel wieder zur Hölle zu bringen; dann erst darf er wieder in den Himmel zurück.“

Am Ende der Tang-Zeit brach der Aufstand Huang Tschaus aus, in dem viele Hunderttausende von Menschen ums Leben kamen. Das waren die hungrigen Teufel, die sich in die Welt gestohlen hatten. Huang Tschau aber war Muliän, der seine Aufgabe auf diese Weise erfüllte.

Empfohlene Zitierweise:
Richard Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. Eugen Diederichs, Jena 1914, Seite 127. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_ChinVolksm_127.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2019)