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ein Schauspiel dar. Die Zuschauer standen dicht gedrängt wie eine Mauer. Da kam ein einfältiger Bauer vom Lande vorüber, der sprach mit lauter Stimme: „Das ist doch nur ein ganz kleiner Wurm. Es ist eine große Dummheit, den als König zu verehren!“

Aber ehe er fertig gesprochen hatte, da flog die Schlange aus dem Tempel heraus. Sie wuchs und wuchs und wickelte sich dreimal um die Schaubühne. Sie ward dick wie ein großer Eimer, und ihr Haupt glich einem Drachen. Die Augen sprühten wie goldene Lampen, und mit der Zunge spie sie rote Flammen aus. Sie streckte sich und zog sich wieder zusammen, da zitterte die Schaubühne, und es sah aus, als wollte sie einstürzen. Die Schauspieler unterbrachen die Musik und fielen auf der Bühne anbetend nieder. Die ganze Menge ward von Entsetzen gepackt und verneigte sich zur Erde. Dann kamen einige Älteste, die warfen den Bauer zu Boden und peitschten und pufften ihn halbtot. Da warf er sich vor der Schlange nieder und betete zu ihr. Es entstand ein Geräusch, wie wenn heftiges Feuerwerk abgebrannt würde. Das dauerte eine geraume Zeit, dann war die Schlange verschwunden.


Im Osten von Schantung liegt die Stadt Döngdschoufu. Dort ist ein Aussichtsturm mit großem Tempel. Zu seinen Füßen liegt die Wasserstadt, die hat im Norden ein Meertor, zu dem die Flut bis in die Stadt hereinkommt. Ein Lager der Strandwache liegt an diesem Tore.

Es war einmal ein Offizier, der war als Hauptmann hierher versetzt worden. Er gehörte früher zum Landheer und war noch nicht lange auf diesem neuen Posten. Er gab einigen Freunden ein Gastmahl. Vor dem Pavillon lag ein großer Stein, der hatte die Form eines Tisches. Plötzlich sah man auf diesem Stein ein Schlänglein sich ringeln, das war grün gefleckt und hatte auf dem viereckigen Kopfe rote Punkte. Die Soldaten wollten das Tierchen töten. Der Hauptmann ging hinaus, um nach der Sache zu sehen.

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Richard Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. Eugen Diederichs, Jena 1914, Seite 147. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_ChinVolksm_147.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)