Seite:Wilhelm ChinVolksm 154.jpg

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und Blitz erhoben sich, also daß Häuser einfielen und Bäume entwurzelt wurden. Auch wurden Menschen getötet und am Getreide großer Schaden angerichtet. Dschou Bau nahm die Schuld auf sich und betete zum Himmel um Verzeihung für das Volk.

Am fünften Tage des sechsten Monats saß er in seinem Rathaus und sprach Recht. Da fühlte er sich plötzlich müd und schläfrig. Er nahm den Hut ab und legte sich aufs Kissen. Kaum hatte er die Augen geschlossen, da sah er einen Krieger in Helm und Panzer mit einer Hellebarde in der Hand vor den Stufen des Saales stehen, der meldete: „Eine Dame ist draußen, die einzutreten wünscht.“ Dschou Bau befragte ihn: „Wer bist du denn?“ Die Antwort war: „Ich bin Euer Torwart. In der unsichtbaren Welt pflege ich dieses Dienstes schon viele Jahre.“ Unterdessen kamen zwei Grünröcke die Stufen herauf, knieten vor ihm nieder und sprachen: „Unsere Herrin ist gekommen, Euch zu besuchen.“ Dschou Bau erhob sich. Da sah er liebliche Wolken, aus denen feiner Regen herunterrieselte, und ein fremder Duft bezauberte ihn. Plötzlich sah er eine Frau in einfachem Gewand, aber von ausnehmender Schönheit aus der Höhe herniederschweben mit einem Gefolge von vielen Dienerinnen. Sie alle waren reinlich und schmuck und dienten der Frau wie einer Prinzessin. Als sie in den Saal trat, erhob sie die Arme zum Gruß. Dschou Bau trat ihr entgegen und lud sie zum Sitzen ein. Von allen Seiten strömten farbige Wolken heran, und purpurner Äther erfüllte den Hof. Dschou Bau ließ Wein und Speisen auftragen und bewirtete sie aufs prächtigste. Die Göttin aber saß mit gerunzelten Brauen starr blickend da und sah recht traurig aus. Dann erhob sie sich, trat vor ihn hin und sagte errötend: „Ich wohne hier in der Nähe seit vielen Jahren. Unbill, die mir widerfahren ist, läßt mich die Schranken des Ziemlichen überschreiten und gibt mir den Mut, Euch eine Bitte vorzutragen. Doch weiß ich nicht, ob Ihr mich retten wollt.“

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Richard Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. Eugen Diederichs, Jena 1914, Seite 154. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_ChinVolksm_154.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)