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„Das sind keine gewöhnlichen Schafe,“ sagte die Frau; „es sind Regenknechte.“

„Was sind denn Regenknechte?“

„Es sind die Donnerböcke“, sprach die Frau.

Und als er näher zusah, da sah er, daß die Tiere stolz und wild einherschritten, ganz anders als gewöhnliche Schafe.

Liu I fügte dann noch hinzu: „Wenn ich den Brief für Euch nun überbringe und Ihr künftig wohlbehalten zum Dungting-See zurückkehrt, müßt Ihr mich aber nicht wie einen Fremden behandeln.“

Die Frau erwiderte: „Wie sollte ich Euch fremd behandeln! Ihr sollt mir der liebste Freund sein!“

Nach diesen Worten schieden sie.

Nach einem Monat kam Liu I an den Dungting-See und fragte nach dem Orangenbaum, und richtig fand er ihn. Er löste seinen Gürtel und schlug dreimal gegen den Baum. Sofort tauchte ein Krieger aus den Wellen des Sees hervor.

Er fragte: „Woher kommt Ihr, werter Gast?“

Er sprach: „Ich habe einen wichtigen Auftrag und will den König sehen.“

Der Krieger winkte nach dem Wasser zu, da ward es zur festen Straße, und er führte ihn hinein. Das Drachenschloß türmte sich vor ihnen auf mit tausend Toren. Wunderblumen und seltene Gräser sproßten in üppiger Fülle. Der Krieger hieß ihn an der Seite eines großen Saales warten.

Er fragte: „Wie heißt dieser Ort?“

„Es ist die Geisterhalle“, war die Antwort.

Liu I sah sich um: Alle Kleinodien der Menschenwelt waren in verschwenderischer Pracht vorhanden. Die Säulen waren aus weißem Quarz mit grünem Jaspis eingelegt; die Sitze waren aus Korallen, die Vorhänge aus wasserklarem Bergkristall, die Fenster aus geschliffenem Glas mit reichem Gitterwerk verziert. Bernsteingeschmückt schwangen sich in weitem Bogen die Balken der Decke. Ein fremder Duft erfüllte den Raum, der sich in geheimnisvollem Dunkel verlor.

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Richard Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. Eugen Diederichs, Jena 1914, Seite 163. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_ChinVolksm_163.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)