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Lange mußte er auf den König warten. Auf seine Fragen belehrte ihn der Krieger: „Der Herr geruht jetzt eben auf dem Korallenturm mit dem Sonnenpriester über das heilige Buch des Feuers zu reden. Es wird wohl bald zu Ende sein.“

Liu I fragte weiter: „Was hat es mit dem heiligen Buch des Feuers auf sich?“

Die Antwort war: „Unser Herr ist ein Drache. Die Drachen sind groß durch die Kraft des Wassers. Mit einer Woge können sie Berg und Tal bedecken. Der Priester ist ein Mensch. Die Menschen sind groß durch die Kraft des Feuers. Mit einer Fackel können sie die größten Paläste verbrennen. Feuer und Wasser bekämpfen sich, da sie in ihrer Wesensart verschieden sind. Darum bespricht sich unser Herr nun mit dem Priester, um einen Weg zu finden, wie Feuer und Wasser sich ergänzen können.“

Noch ehe sie ausgeredet, erschien ein Mann im purpurnem Gewand, der trug ein Jaspiszepter in der Hand.

Der Krieger sprach: „Das ist mein Herr.“

Liu I verneigte sich vor ihm.

Der König sprach: „Seid Ihr denn nicht ein lebender Mensch? Was führt Euch hierher?“

Liu I nannte seinen Namen und erzählte: „Ich war in der Hauptstadt und fiel dort in der Prüfung durch. Als ich am Ging Dschou-Fluß vorüberkam, da sah ich Eure geliebte Tochter, wie sie Schafe weidete in der Wildnis. Der Wind zauste ihre Haare, und der Regen netzte sie. Ich konnte diese Trübsal nicht mit ansehen und sprach sie an. Sie klagte mir, daß sie von ihrem Gatten verstoßen sei, und weinte bitterlich. Dann gab sie mir einen Brief mit. Darum bin ich gekommen, Euch, o König, zu besuchen.“

Mit diesen Worten holte er den Brief heraus und überreichte ihn dem König. Als der ihn durchgesehen hatte, verhüllte er sein Antlitz mit dem Ärmel und sagte seufzend: „Das ist meine Schuld. Ich habe ihr einen schlechten

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Richard Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. Eugen Diederichs, Jena 1914, Seite 164. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_ChinVolksm_164.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)