Seite:Wilhelm ChinVolksm 165.jpg

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Gatten ausgewählt. Ich wollte meine Tochter recht früh verheiraten und hab sie nun in der Ferne in Schmach und Schande gebracht. Ihr seid ein Fremder und habt Euch doch bereitgefunden, in ihrer Not ihr beizustehen; dafür bin ich Euch herzlich dankbar.“ Dann begann er abermals zu schluchzen, und alle Umstehenden vergossen Tränen. Der Fürst gab nun den Brief einem Diener, der ihn ins Innere des Palastes trug. Nach einer kleinen Weile erhoben sich im Innern des Palastes laute Klagen.

Der Fürst erschrak und wandte sich an einen der Beamten: „Geh hin und sage denen drinnen, sie sollen nicht so laut weinen; ich fürchte, Tsiän Tang könnte es hören.“

„Wer ist denn Tsiän Tang?“ fragte Liu I.

„Es ist mein geliebter Bruder“, sprach der Fürst. „Er war früher der Herrscher des Tsiän-Tang-Flusses. Jetzt ist er abgesetzt.“

Liu I fragte: „Warum soll er nicht von der Sache hören?“

„Er ist so wild und unbändig,“ war die Antwort, „daß ich fürchte, er könnte großes Unheil anrichten. Die Sintflut, die damals zur Zeit des Kaisers Yau neun Jahre lang auf Erden war, hat er in seinem Zorne angerichtet. Weil er mit einem Himmelsfürsten uneins wurde, hat er eine Wasserflut erregt, die bis über die Gipfel der fünf großen Berge ging. Da wurde der Herr zornig auf ihn und hat ihn mir in Gewahrsam übergeben. Ich mußte ihn an eine Säule des Palastes fesseln.“

Aber noch ehe er ausgeredet hatte, erhob sich plötzlich ein ungeheures Getöse, daß der Himmel zerriß und die Erde erbebte und der ganze Palast in Erschütterung geriet und Rauch und Wolken qualmend aufzischten. Ein roter Drache, tausend Fuß lang, mit blitzenden Augen, blutroter Zunge, scharlachnen Schuppen und feurigem Barte kam daher. Die Säule, an der er angefesselt war, schleppte an seiner Kette durch die Luft. Blitz und Donner brausten um seinen Leib; Schloßen, Schnee, Regen

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Richard Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. Eugen Diederichs, Jena 1914, Seite 165. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_ChinVolksm_165.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)