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an den Dachbalken aufzuhängen und so den Tod zu finden. Dann erst wird für sie selbst der Weg zur Unterwelt frei, und sie können von neuem ins Rad der Verwandlungen eingehen. Der Geist der Neugehängten sucht dann wieder Stellvertretung. Darum kommt es so häufig vor, daß törichte Weiber sich erhängen. In Märchen und Geschichten ist viel von Geistern der Erhängten die Rede. Oft mag es Zufall sein. Doch eine Geschichte will ich jetzt erzählen, die ich von glaubhaften Leuten selbst gehört.

In Tsingtschoufu lebte ein Mann, der die militärische Vorprüfung bestanden und nach Tsinanfu mußte, um sich dort zu stellen. Es war zur Regenzeit. So traf sich’s denn, daß er, von Schlamm und Regen aufgehalten, nur langsam vorwärts kam, so daß er abends das Herbergsdorf nicht mehr erreichte. Nach Sonnenuntergang kam er an einen kleinen Weiler und bat um Unterkunft. Aber im ganzen Dorf gab es nur ärmliche Familien, die keinen freien Platz in ihren Häusern hatten. So wiesen sie ihn denn nach einem alten Tempel vor dem Dorfe, daß er dort übernachte.

Die Götterbilder in dem Tempel waren ganz verfallen, daß man sie nicht mehr unterscheiden konnte. Dichte Spinnengewebe überzogen die Tür, und zollhoch lag der Staub. So ging er denn hinaus ins Freie. Da fand er eine alte Treppenstufe. Er breitete die Reisetasche auf dem Stein aus, band sein Pferd an einen alten Lebensbaum, holte die Feldflasche aus der Tasche, machte sich’s bequem und trank. Der Tag war heiß gewesen. Nach heftigem Regen klärte es sich eben wieder auf. Der neue Mond neigte sich zum Untergang. Er war vom Trinken angenehm benebelt, schloß die Augen und wollte schlafen.

Plötzlich hörte er im Tempel ein raschelndes Geräusch. Ein kühler Wind strich ihm über das Gesicht, daß er zusammenschauerte. Da sah er eine Frau aus dem Tempel herauskommen in alten, schmutzigen, roten Kleidern, das Gesicht kreideweiß wie eine getünchte Wand. Vorsichtig schlich sie vorüber, als fürchtete sie, einem Menschen zu

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Richard Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. Eugen Diederichs, Jena 1914, Seite 198. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_ChinVolksm_198.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)