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nicht weit entfernt. Er lief, was er konnte, rannte die Treppe empor und schloß die Tür hinter sich zu. Allmählich kam er wieder etwas zu Atem. Draußen war kein Laut zu hören. So dachte er, die Leiche sei vielleicht nicht mitgekommen. Er öffnete das Fenster und spähte nach unten. Die Leiche lehnte an der Mauer des Hauses. Plötzlich sah sie, daß das Fenster offen war. Mit einem Satz sprang sie in die Höhe zum Fenster hinein. Vor Schreck erstarrt fiel der Lehrer die Haustreppe hinunter und blieb unten bewußtlos liegen. Da fiel auch oben die Leiche zu Boden.

Die Schüler waren um jene Zeit alle schon nach Hause gegangen. Der Hausherr wohnte in einem andern Hause, so daß kein Mensch die Geschichte bemerkte. Am andern Morgen kamen die Schüler in die Schule. Die Tür war verschlossen. Sie riefen, niemand antwortete. Da schlugen sie die Tür ein und fanden ihren Lehrer auf der Erde liegen. Sie besprengten ihn mit Ingwersuppe; aber es dauerte lange, bis er wieder zu sich kam. Auf Befragen erzählte er dann, was ihm begegnet war. Alle miteinander stiegen sie dann nach oben und schafften die Leiche herab. Man brachte sie vor das Dorf und verbrannte sie. Die Knochenreste tat man dann wieder in den Sarg. Der Lehrer aber sagte seufzend: „Um der Gewinnsucht eines Augenblicks willen wäre ich beinahe ums Leben gekommen.“ Er gab seine Stelle auf und kehrte heim und hat in seinem Leben nie wieder von Gewinn geredet.


71. Die Nacht auf dem Schlachtfeld

Es war einmal ein Kaufmann, der mit seinen Waren vom Süden nach Schantung wanderte. Es war etwa um die zweite Nachtwache, da erhob sich ein heftiger Nordsturm. Er sah zur Seite der Straße eine Herberge, deren Lichter eben angezündet wurden. Er ging hinein, um einen

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Richard Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. Eugen Diederichs, Jena 1914, Seite 210. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_ChinVolksm_210.jpg&oldid=- (Version vom 29.5.2018)