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75. Das Oger-Reich

In Annam lebte ein Mann namens Sü, der fuhr als Kaufmann über das Meer. Plötzlich wurde er von einem großen Sturme an eine ferne Küste verschlagen. Zerklüftete Berge erhoben sich, von üppigem Grün bewachsen. Doch sah er auf dem Lande etwas, das Menschenwohnungen glich. So nahm er denn Wegzehrung zu sich und stieg ans Ufer. Kaum war er ins Gebirge eingetreten, so sah er auf beiden Seiten die Öffnungen von Höhlen, dicht gereiht wie Bienenkörbe. Er blieb stehen und sah in eines der Löcher hinein. Da waren zwei Oger darin, die hatten Zähne wie Speere. Ihre Augen glichen feurigen Lampen. Mit den Krallen zerrissen sie einen rohen Hirsch und fraßen ihn auf. Er erschrak bei diesem Anblick aufs äußerste und wollte entfliehen; aber die Oger hatten ihn schon erblickt, fingen ihn ein und nahmen ihn mit sich in ihre Höhle. Die beiden Wesen redeten miteinander in tierischen Lauten. Sie rissen ihm die Kleider vom Leib und wollten ihn auffressen. Da nahm er eiligst aus seinem Sack Brot und Dörrfleisch hervor und bot es ihnen dar. Sie teilten es, aßen es auf, und es schien ihnen zu schmecken. Sie durchsuchten abermals seinen Sack; er aber winkte mit der Hand, um ihnen anzudeuten, daß er nichts mehr habe.

Dann sprach er: „Laßt mich los! Ich habe in meinem Schiffe Pfannen und Töpfe, Essig und Würzen. Damit kann ich euch Speisen kochen.“

Die Oger aber verstanden nicht, was er sagte, und waren immer noch böse. Da suchte er sich durch Zeichen mit der Hand verständlich zu machen, und schließlich schienen sie ein wenig zu verstehen. Er ging mit ihnen ans Schiff, holte sein Kochgeschirr in die Höhle, sammelte Reisig, zündete ein Feuer an und kochte die Überreste

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Richard Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. Eugen Diederichs, Jena 1914, Seite 217. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_ChinVolksm_217.jpg&oldid=- (Version vom 30.5.2018)