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zur gesetzten Zeit nicht wiederkommst, so mußt du sterben. Denke nicht, du könnest zu Hause mit Weib und Kind dauernd fröhliche Tage verbringen!“

So kehrte der Mann in seine Heimat zurück. Zwei Jahre vergingen, und nichts Schlimmes zeigte sich.

Da dachte er: „Das Mädchen von Miau hat nur leere Drohungen ausgestoßen, damit ich wieder hin soll. Wo gibt’s ein Gift, das man jahrelang im Leib herumtragen kann, ehe es zu wirken anfängt?“

Als nun die Zeit herankam, da brach er sein Versprechen und blieb.

Eines Tages hatte er Wein getrunken und war ein wenig angeheitert. Da merkte er, daß etwas Hartes ihm die Kehle heraufstieg und ihn zu ersticken drohte. Plötzlich erbrach er eine güldne Schlange, das heißt: sie streckte nur den Kopf zu seinem Mund heraus, während der Schwanz im Leibe drunten blieb. Da erschrak er sehr und ward erst inne, daß nun das Gift zu wirken anfing. So ließ er denn eiligst anspannen, um in das Miau-Land zurückzukehren. Und kaum hatte er sich auf den Weg gemacht, da war der Schlangenkopf auch schon wieder verschwunden. Bei der Begrüßung nun gestand er dem Mädchen von Miau seine Schuld und bat sie um Verzeihung. Und sie löste den Zauber. Von da ab hielt der Mann bei seinen Reisen zwischen Miau und Canton hin und her sich immer streng an den Termin und wagte nie wieder, sein Wort zu brechen.

Es geht die Sage, daß wer also vergiftet sei, trübe und glanzlose Pupillen bekomme. Wenn man innerhalb von sieben Tagen Pfirsichkerne, Realgar und dergleichen Mittel gegen Schlangen und Gifte nehme, sie mit altem Wein koche und sie mit Salzwasser zusammen trinke, so könne man wieder genesen. Nach dieser Zeit jedoch gebe es keine Rettung mehr. Darum warnen sich alle, die das Miau-Land besuchen, gegenseitig, keinen Becher Wasser zu berühren.

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Richard Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. Eugen Diederichs, Jena 1914, Seite 229. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_ChinVolksm_229.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)