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nach ihrem Ärmel. Sie kam in große Not; doch konnte sie ihm nicht entwischen.

Da sprach sie lächelnd: „Das hat dir sicher die flinke Zunge des Schwesterchens verraten. Doch war es ja nicht mein Wunsch, dir nicht Gattin zu sein, sondern der Eltern Befehl, den ich zu übertreten mir nicht getraute. Da es aber nun so gekommen ist, sind wir vom Himmel füreinander bestimmt.“

So wurden sie denn wirklich Mann und Frau und gewannen sich von Tag zu Tage lieber. Die Eltern wußten um die Sache und haßten ihn darob im stillen.

Eines Tages sprach seine Frau zu ihm: „Morgen früh ist meiner Mutter Geburtstag, da mußt auch du ihr deinen Glückwunsch bringen. Nun werden sie dir sicher Wein und Essen geben. Den Wein darfst du wohl trinken, doch vom Essen darfst du nichts berühren. Denk fest daran!“

Am andern Tag ging die Frau mit ihrem Manne in den Saal, und sie brachten ihre Wünsche dar. Die beiden Eltern schienen hocherfreut und warteten mit Wein und Süßigkeiten auf. Der Eidam trank, doch aß er nichts. Mit milden Worten und freundlichen Gebärden forderten ihn die Schwiegereltern beständig auf zuzulangen. Der Eidam wußte nicht, wie er sich retten sollte. Schließlich dachte er, daß sie es wohl nicht böse mit ihm meinen werden. Und wie er so vor sich im Teller die frischen und schönen Garneelen und Krebse sah, da aß er ein ganz klein wenig. Seine Frau warf ihm einen tadelnden Blick zu. Er schützte Betrunkenheit vor und wollte sich verabschieden.

Die Schwiegermutter aber sprach: „Heute ist mein Geburtstag. Du mußt doch auch von den Geburtstagsnudeln kosten!“

Darauf stellte sie eine große Schüssel vor ihn hin, mit Nudeln wie Silberfäden anzusehn, mit fettem Fleisch, mit duftenden Pilzen gewürzt. Der Eidam hatte während der drei Jahre, die er im Hause war, noch nie solch köstliche

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Richard Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. Eugen Diederichs, Jena 1914, Seite 231. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_ChinVolksm_231.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)