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bei Nacht suchte sie Ruhe in Höhlen und Klüften. Sie kletterte über die Berge und watete durch die Flüsse. Mühselig schleppte sie sich wochenlang dahin. Da kam sie nach Kuilin. Sie suchte das Haus des jungen Mannes, rief seinen Namen und begehrte, ihn zu sehen. Der Torwart wies sie scheltend fort. Da brach sie schluchzend vor der Tür zusammen.

Als der junge Mann damals nach Hause gekommen war, hatte er sich mit großem Eifer ans Lernen gemacht und hatte auch schon die erste Prüfung bestanden. Zu jener Zeit hatten die Eltern eben einen Glückstag ausgewählt zur Heirat. Am anderen Tage sollte Hochzeit sein. Verwandte und Bekannte hatten sich versammelt, um bei dem Fest zu helfen. Der Vater hatte für die Gäste ein Festmahl zugerichtet.

Als nun der junge Mann sich eben mit zu Tische setzte, da hörte er vor der Türe Lärm und Rufen. Er ging hinaus zu sehen, was es wäre. Da saß das Mädchen da, das ganze Gesicht voll Eiterbeulen, die eben am Aufbrechen waren, die Augenbrauen kahl, die Nase eingefallen, die Lippen aufgesprungen und die Stimme heiser. Erschrocken sah er sie an, doch erkannte er sie nicht.

Das Mädchen sprach: „Gedenkt Ihr nicht mehr an die Zeit vor zwei Jahren, da Ihr in unsrem Hause weiltet? Jetzt ist die Krankheit bei mir ausgebrochen, und die Eltern haben mich verstoßen. Nun ich Euch noch einmal gesehen habe, sterbe ich gerne.“

Da kam auf einmal die Erinnerung an die Vergangenheit über ihn, und unter Tränen sagte er zu ihr: „Ihr wart wie eine Blume so schön, und nun ist das aus Euch geworden! Immerhin, Ihr habt mir große Güte angetan, und ich schwöre, daß ich Euch nicht verlassen will.“ So nahm er denn das Mädchen bei der Hand und stieg mit ihr zum Saal empor, die Eltern zu begrüßen und die Verwandten alle.

Dann kniete er nieder, bat ums Wort und sprach: „Hätt

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Richard Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. Eugen Diederichs, Jena 1914, Seite 238. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_ChinVolksm_238.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)