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ich dies Mädchen nicht getroffen, wär ich wohl schon längst in einem Graben verendet. Unser Glück von heute ist alles ihr Geschenk.“

Hochherzig sprach der Vater: „Auch sie sei meines Sohnes Frau! Wenn morgen Hochzeit ist, soll sie doppelt gefeiert werden. Die beiden sollen Schwestern heißen, keine sei Hauptfrau, keine Nebenfrau!“

Die Freunde und Verwandten waren alle einverstanden und schenkten Wein ein, um ihm Glück zu wünschen, und das ganze Gespräch bei Tische war über dieses Mädchens Tugend.

Das Mädchen aber neigte sich tief und sprach unter Tränen: „Ich bin mit übler Krankheit behaftet und werde heute oder morgen sterben. Wie hielt ich’s aus, Genossin diesem Herrn zu sein und Hochzeitsfest mit ihm zu feiern? Ich bitte nur, daß man mir einen Raum gewähre, wo ich in Ruhe sterben kann.“

Der Vater blickte heimlich auf das Mädchen und sah, daß ihre Krankheit wirklich übel war, daß sie sich nicht zur Hochzeitsfeier schicke. So ließ er denn im hintern Hofe ihr ein Zimmer bereiten, daselbst zu wohnen. Eine Magd kehrte den Boden, führte sie hinein und breitete Decken und Kissen auf dem Lager aus.

Das Zimmer war für gewöhnlich als Weinkammer benützt. Rings an den Wänden und in den Ecken standen Weinkrüge umher. Das Mädchen befragte die Magd.

Die sprach: „Das ist guter, alter Wein, wenn Ihr durstig seid, mögt Ihr Euch gütlich daran tun.“

Am andern Tage feierte man Hochzeit. Der Klang der Trommeln dröhnte zum Himmel, Flöten und Pfeifen betäubten das Ohr. Das Mädchen hörte den fröhlichen Lärm und ward betrübt. Da fiel ihr der Wein ein. Sie öffnete einen Krug, um zu schöpfen. Plötzlich sah sie eine Giftschlange, am ganzen Leibe weiß gezeichnet, die im Kruge aufgeringelt lag. Erschrocken trat sie zurück. Der Krug war wohl nicht fest verschlossen gewesen, die Schlange

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Richard Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. Eugen Diederichs, Jena 1914, Seite 239. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_ChinVolksm_239.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)