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81. Die bemalte Haut

In Taiyüanfu lebte ein Mann namens Wang. Er ging eines Morgens aus, da traf er ein Mädchen, die trug ein Bündel am Arm und war einsam unterwegs. Sie kam mit ihren kleinen Füßen nur schwer voran. Er beschleunigte den Schritt und holte sie ein. Da war es ein entzückendes Mädchen von etwa sechzehn Jahren.

Sie gefiel ihm recht gut, und so begann er: „Was geht Ihr in dieser frühen Morgenstunde so einsam Euren Weg?“

Das Mädchen sprach: „Fremde können einander nicht ihren Kummer erleichtern. Was bemüht Ihr Euch zu fragen?“

Der junge Mann sprach: „Was habt Ihr für ein Leid? Wenn ich Euch helfen kann, so bin ich gern bereit dazu.“

Das Mädchen antwortete traurig: „Meinen Eltern lag sehr am Geld. Sie verkauften mich als Sklavin an einen reichen Mann. Seine Frau war eifersüchtig, des Morgens schalt sie, und des Abends schlug sie mich. Ich hielts nicht länger aus und lief davon.“

„Und wohin wollt Ihr nun?“

„Verlorene Menschen haben keine Heimat.“

Da sprach der Jüngling: „Mein Haus ist nicht fern von hier. Wollt Ihr Euch hin bemühen und es Euch ansehen?“

Das Mädchen war mit Freuden einverstanden. Der junge Mann nahm ihr das Bündel ab und brachte sie nach Hause.

Das Mädchen sah, daß niemand in dem Zimmer war und fragte: „Habt Ihr denn keine Frau?“

„Das ist nur mein Studierzimmer“, war die Antwort.

„Der Platz ist schön und gut“, sprach das Mädchen. „Wenn Ihr Mitleid mit mir habt und mir das Leben retten wollt, so dürft Ihr niemand etwas sagen, daß ich hier bin.“

Der junge Mann versprach es ihr, und er verbarg sie in dem abgelegenen Zimmer. Tage vergingen, ohne daß jemand

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Richard Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. Eugen Diederichs, Jena 1914, Seite 241. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_ChinVolksm_241.jpg&oldid=- (Version vom 30.5.2018)