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„Zum Glück ist sie noch nicht weit“, sprach er. „Wer wohnt denn in dem Südhof?“

Der Bruder sprach: „Es ist meine Wohnung.“

„Dort ist sie jetzt“, sagte der Priester.

Der Bruder war erstaunt; denn er wußte nichts davon.

Der Priester fragte: „Ist nicht jemand Fremdes zu Euch gekommen?“

„Ich war eben im Tempel, um Euch zu suchen, ich weiß es nicht. Ich muß erst gehen und fragen.“

Nach einer Weile kam er zurück: „Richtig ist jemand dort. Heute morgen kam ein altes Weib und suchte eine Stellung als Magd für unsere Diener. Die Leute haben sie behalten, und sie ist noch da.“

„Das ist sie“, sagte der Priester.

Dann ging er mit hinüber, ergriff ein hölzernes Schwert, stellte sich in die Mitte des Hofes und rief: „Teufelsbrut, gib mir meinen Wedel wieder!“

Die Magd im Zimmer wurde aufgeregt und erblaßte. Sie kam zur Tür heraus und wollte entfliehen. Da schlug der Priester nach ihr. Die Magd fiel hin. Die Menschenhaut löste sich spröde von ihr ab, und sie verwandelte sich in einen Teufel, der grunzend wie ein Schwein am Boden sich wälzte. Der Priester schlug ihm mit dem Holzschwert den Kopf ab. Da verwandelte sich die Gestalt in einen dicken Rauch, der in dichten Schwaden am Boden aufwirbelte. Der Priester zog eine Melonenflasche hervor, öffnete sie und stellte sie mitten in den Rauch. Der geriet in wogende Bewegung, und wie man mit dem Mund die Luft einzieht, war im Augenblick der Rauch in der Flasche verschwunden. Der Priester schloß sie wieder und steckte sie in seine Tasche. Alle betrachteten die Menschenhaut: Augenbrauen, Augen, Hände und Füße, alles war vollständig und deutlich vorhanden. Der Priester rollte sie zusammen, und es raschelte, wie wenn man ein Bild aufrollt. Dann steckte er sie auch zu sich und wandte sich zum Gehen.

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Richard Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. Eugen Diederichs, Jena 1914, Seite 244. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_ChinVolksm_244.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)