Seite:Wilhelm ChinVolksm 286.jpg

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Kaisers die höchste Prüfung bestanden und war mit dem Amt eines Kreisvorstehers am Yangtsekiang betraut worden. Er ging mit seiner Frau zusammen nach seinem neuen Amtsbezirk. Als sie mit ihrem Schiff den Fluß erreicht hatten, begegneten sie einer Räuberbande. Der Häuptling tötete das ganze Gefolge, warf den Vater Tschen in den Fluß, bemächtigte sich seiner Frau und seiner Amtsurkunde und begab sich unter falschem Namen in jene Kreisstadt und übernahm das Siegel. Alle Diener und Knechte, die er mit sich nahm, waren Glieder der Bande. Die geraubte Frau aber schloß er in einem verborgenen Turmgemache ein. Zu jener Zeit war die Frau schon seit drei Monaten guter Hoffnung. Darum blieb sie am Leben, obwohl sie am liebsten gestorben wäre, da sie hoffte, einen Sohn zu bekommen, der den Namen der Familie Tschen fortsetzen und den Frevel rächen könne.

Als nun die Zeit ihrer Niederkunft gekommen war, schützte sie Krankheit vor, damit der Räuber nicht zu ihr komme. Und so gebar sie einen Sohn. Die Diener und Dienerinnen aber waren lauter Vertraute des Räubers. So fürchtete sie denn, die Sache möchte ruchbar werden.

Nun war unten vor ihrem Turm ein kleiner Teich. Aus diesem Teich kam ein Bach hervor, der durch die Mauern floß bis in den Yangtse. Sie nahm ein Körbchen aus Bambus, verklebte die Ritzen und legte das Knäblein hinein. Dann biß sie sich einen Finger ab und schrieb mit ihrem Blute die Stunde und den Tag der Geburt auf einen Seidenstreifen und fügte bei, daß der Knabe, wenn er zwölf Jahre alt sei, kommen und sie retten solle. Dann wickelte sie den abgebissenen Finger in den Seidenstreifen und legte ihn neben den Knaben in das Körbchen, und zur Nachtzeit, als kein Mensch um den Weg war, setzte sie das Körbchen in den Bach. Es schwamm hinaus der Strömung nach bis in den Yangtsekiang. Dort trieb es weiter bis an das Kloster auf dem Goldberge, der als eine Insel mitten im Flusse liegt. Da fand es ein Priester, der gegangen war,

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Richard Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. Eugen Diederichs, Jena 1914, Seite 286. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_ChinVolksm_286.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)