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Mondschein. Plötzlich mußte er an den alten Bettlerfürsten denken. Seine Frau war wohl gut und klug; aber wenn sie ihm Kinder gebar, so waren und blieben sie eben Enkel des Bettlers, und diese Schmach ließ sich auf keine Weise abwischen. Da entstand in seinem Herzen ein Plan. Er rief Goldtöchterchen aus der Kajüte heraus, um den Mondschein anzusehen. Erfreut trat sie zu ihm. Knechte und Mägde und alle Schiffer waren längst schlafen gegangen. Er sah sich nach allen Seiten um: niemand war zugegen. Goldtöchterchen stand eben vorne im Schiff. Sie dachte an nichts Böses, als er plötzlich sie mit der Hand ins Wasser stieß. Dann stellte er sich erschrocken und begann zu schreien: „Meine Frau hat einen Fehltritt getan und ist ins Wasser gefallen!“

Auf seine Worte hin standen die Diener eilig auf und wollten sie herausfischen.

Er aber sprach: „Sie ist schon von der Strömung fortgerissen, ihr braucht euch keine Mühe zu machen.“ Dann befahl er schleunigst weiterzufahren.

Wer hätte gedacht, daß ein glücklicher Zufall es wollte, daß gerade in jener Zeit Herr Hü, der Verkehrsbeamte der Provinz, ebenfalls sein Amt antrat und ebenfalls an jenem Platze ankerte. Auch er saß mit seiner Frau am offenen Fenster der Kajüte, des Mondscheins und der Kühlung zu genießen.

Plötzlich hörten sie am Ufer weinen, und zwar schien es ein Mädchen zu sein. Eilig sandten sie Leute zu ihrer Hilfe aus. Die brachten sie an Bord. Es war Goldtöchterchen.

Als sie ins Wasser gefallen war, da fühlte sie etwas unter ihren Füßen, das ihr Halt gab, so daß sie nicht untersank. So ward sie von der Strömung fortgetragen dem Ufer zu. Sie kroch hinauf. Da kam es ihr zum Bewußtsein, daß ihr Mann, nachdem er vornehm geworden, seine frühere Armut vergessen hatte, und wenn sie auch nicht ertrunken war, so kam sie sich doch allein und verlassen vor, und unversehens entströmten ihr die Tränen.

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Richard Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. Eugen Diederichs, Jena 1914, Seite 292. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_ChinVolksm_292.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)