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Dann ließ er seidene Gewänder bringen und eine Zobelmütze und ebensolche Strümpfe und Schuhe und bat ihn, die Kleider zu wechseln. Wein und Speisen wurden aufgetragen. Die Polster und Decken der Tische und Stühle waren von Stoffen, die er gar nicht kannte. Ihre schimmernde Farbenpracht blendete das Auge. Nach einigen Bechern Wein zog sich der Greis zurück. Darauf zeigte der Jüngling seine Aufsätze. Sie waren alle im Stil der alten Meister, nicht in der neumodischen achtteiligen Form.

Als er ihn darüber befragte, sagte der Jüngling lächelnd: „Es liegt mir gar nichts daran, in den Staatsprüfungen Glück zu haben.“

Darauf nahm er den Becher und goß ihm wieder ein.

Dann wandte er sich an den Knaben: „Sieh mal nach, ob der alte Herr schon schläft! Schläft er, so kannst du im stillen die kleine Hiang-Nu holen.“

Der Knabe ging. Der Jüngling nahm aus einem gestickten Futteral eine Laute hervor. Gleich darauf kam eine Dienerin herein, die war rot gekleidet und überaus schön. Der Jüngling ließ sie „Die Klage der Geliebten“ singen. Die schmelzenden Töne rührten das Herz. Dann ließ er noch einen großen Becher herbeibringen, aus dem sie tranken. Die dritte Nachtwache war herbeigekommen, ehe sie sich schlafen legten.

Am andern Morgen stand man frühe auf und machte sich ans Lernen. Der Jüngling war überaus begabt. Was er nur einmal vor sich gesehen, behielt er gleich im Gedächtnis. So machte er denn im Lauf von einigen Monaten bedeutende Fortschritte. Man folgte der alten Sitte, alle fünf Tage einen Aufsatz zu machen und nachdem er abgegeben war, ein kleines Trinkgelage zu veranstalten. Jedesmal wurde dabei die Hiang-Nu gerufen.

Eines Abends nun, als sie vom Weine schon etwas heiter geworden waren, blickte Kung die Hiang-Nu unverwandt an.

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Richard Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. Eugen Diederichs, Jena 1914, Seite 300. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_ChinVolksm_300.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)