Seite:Wilhelm ChinVolksm 314.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

Ich besitze keine Schwester mehr, und ich kann daher auch keine Nichte haben.“ Ying Ning aber sagte: „Ich bin nicht das Kind der ersten Frau. Tsin hieß mein Vater. Als er starb, war ich noch in den Windeln, daher weiß ich weiter nichts.“ Da sprach die Mutter: „Meine Schwester war an einen Tsin verheiratet, doch ist sie lange tot. Wie sollte sie auf einmal wieder leben?“ Da kam der Vetter Wu, und Ying Ning zog sich vor ihm in das Haus zurück. Wu fragte ganz genau nach allem, dachte lange nach und fragte dann: „Das Mädchen heißt Ying Ning?“ Befragt, woher er diesen Namen wisse, sagte er: „Es ist das eine unheimliche Sache. Als Tante Tsin gestorben war, da lebte noch der Onkel eine Zeitlang, bis ihn eine Füchsin behexte und er an der Auszehrung zugrunde ging. Die Füchsin aber hatte ihm ein Kind geboren namens Ying Ning, das dort auf dem Bett in seinem Wickelkissen lag, und das auch alle die Verwandten sahen. Auch später kam sie öfter wieder. Da hat man einen Teufelsbanner um einen Zauberspruch gebeten, den man an der Wand befestigte. Darauf hat die Füchsin sich das Kind genommen und ist fortgegangen. Sicher ist es das!“ Im weiteren Gespräche hörten sie aus einem Zimmer nebenan ein lautes Lachen. Es war Ying Nings Lachen. Vetter Wu wollte sie sehen, und als die Mutter sie zu holen kam, da schüttelte das Mädchen sich vor Lachen, daß sie gar nicht schauen konnte. Erst als ihr die Mutter streng befahl hinauszugehen, konnte sie das Lachen unterdrücken. Doch kaum hatte sie Wu gegrüßt, da kehrte sie auch schon wieder um und brach in ihrem Zimmer wieder in lautes Lachen aus, daß alle in dem Hause darob verwundert waren.

Wu ging aus, der Sache nachzuforschen. Er suchte nach dem Dorf und nach dem Grab der Tante Tsin; doch fand er weder Dorf noch Grab. Dann kehrte er zurück. Die Mutter fürchtete, sie sei vielleicht ein Geist. Sie ging zu ihr hinein und sagte ihr von Wu’s Erzählung. Ying Ning aber zeigte keine Angst; sie war auch nicht gerührt, weil

Empfohlene Zitierweise:
Richard Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. Eugen Diederichs, Jena 1914, Seite 314. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_ChinVolksm_314.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)