Seite:Wilhelm ChinVolksm 333.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
98. Edelweiss

Ho Huans Vater war frühe gestorben. Er hatte ihn in zarter Jugend zurückgelassen. Der Knabe war überaus klug und begabt. Mit elf Jahren wurde er als Wunderkind in die Kreisschule aufgenommen. Seine Mutter liebte ihn über alle Maßen und ließ ihn nie zur Tür hinaus. Als er dreizehn Jahre alt war, kannte er noch nicht einmal seine verschiedenen Verwandten.

Im selben Dorfe lebte ein Friedensrichter namens Wu. Der beschäftigte sich mit geheimem Sinn, ging ins Gebirge und kam nicht wieder heim. Seine Tochter hieß Edelweiß. Sie war vierzehn Jahre alt und über alle Maßen schön. In ihrer Kindheit hatte sie heimlich ihres Vaters Bücher gelesen und sich das Leben der Ho Siän Gu zum Vorbild genommen. Als ihr Vater verschwunden war, entschloß sie sich, unverheiratet zu bleiben, und ihre Mutter konnte sie in diesem Entschlusse nicht irremachen.

Eines Tages war Ho Huan vor der Tür und erspähte sie. Der Knabe, unwissend, wie er war, fühlte nur in seinem Herzen eine starke, unerklärliche Zuneigung aufkeimen. Er erzählte es seiner Mutter gerade heraus und bat sie, das Mädchen holen zu lassen. Die Mutter wußte, daß das nicht ging; darum machte sie Schwierigkeiten. Da wurde der Knabe traurig und verlor sich selbst. Die Mutter gab in ihrer Sorge den Wünschen ihres Sohnes nach und schickte jemand zu der Familie, um wegen einer Heirat Verbindungen anzubahnen. Dort wies man alles ab. Der Knabe mußte nun bei allem, was er tat, an die Geliebte denken, und doch wußte er keinen Rat.

Da traf er eines Tages einen Taoisten unter der Tür. Der hatte eine kleine, fußlange Hacke bei sich. Der Knabe nahm sie in die Hand und sah sie an; dann fragte er, wozu sie diene.

Empfohlene Zitierweise:
Richard Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. Eugen Diederichs, Jena 1914, Seite 333. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_ChinVolksm_333.jpg&oldid=- (Version vom 30.5.2018)