Seite:Wilhelm ChinVolksm 334.jpg

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Der Taoist erwiderte lächelnd: „Das ist zum Kräuterhacken. Das Ding ist klein; aber man kann die härtesten Steine damit zerteilen.“

Der Knabe glaubte noch nicht recht daran; da schlug der Taoist damit nach einem Mauerstein, und richtig fiel er auf den ersten Streich herunter und zerbröckelte. Der Knabe war verwundert. Er hielt das Ding in der Hand und mochte es gar nicht wieder hergeben.

Lächelnd sprach der Taoist: „Wenn dus haben willst, so will ich dirs schenken!“

Hocherfreut bot der Knabe ihm Geld an. Jener aber nahm nichts von ihm. Der Knabe trug die Hacke mit sich ins Haus zurück. Er probierte sie an Ziegeln und Steinen; nichts widerstand ihrer Kraft. Da fiel ihm ein, er könne die Geliebte sehen, wenn er damit ein Loch durch ihre Mauern grübe. Das nahm er sich vor, ohne an etwas Böses dabei zu denken. Rasch stieg er über die eigene Hofmauer und lief weg, geradezu nach dem Hause der Geliebten. Zwei Mauern mußte er durchgraben, da stand er im innern Hof. In einem kleinen Zimmerchen brannte noch Licht. Er schlich sich herzu und spähte hinein, da stand Edelweiß im Nachtkleid. Bald darauf erlosch das Licht, und es war still und lautlos. Er machte ein Loch ins Fenster und stieg hinein. Das Mädchen schlief schon fest. Sachte zog er die Schuhe aus und schlich ganz leise ans Bett. Er fürchtete aber, das Fräulein könnte erwachen und ihn fortschicken; darum kroch er ganz vorsichtig an den inneren Rand des Bettes und legte sich dort neben die gestickten Decken. Ein leichter Duft drang zu ihm, und all seines Herzens Sehnen war gestillt. Da er aber die halbe Nacht gearbeitet hatte, war er recht müde geworden. Nach einer Weile schloß er die Augen und schlief unversehens ein. Das Mädchen wachte auf. Sie hörte seinen Atem gehen, sie öffnete die Augen und sah das Loch im Fenster, zu dem es hell hereinkam. Sie erschrak aufs äußerste. Schnell stand sie auf und rüttelte leise die Magd wach. Sie

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Richard Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. Eugen Diederichs, Jena 1914, Seite 334. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_ChinVolksm_334.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)