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öffneten den Riegel und schlichen hinaus. Dann klopften sie ans Fenster des Nebenzimmers, wo die andern Mägde schliefen, und riefen um Hilfe, und die ganze Schar kam herbei. Man machte Licht, bewaffnete sich mit Stöcken, um nachzusehen. Da erblickte man einen jungen Schüler, der süß auf der Decke des Bettes schlummerte. Man sah näher zu, da war’s der junge Ho Huan. Man mußte ihn rütteln, ehe er erwachte. Er richtete sich auf. Es flimmerte ihm vor den Augen wie Sternschnuppen, doch tat er nicht sehr zag. Alle deuteten auf ihn als einen Dieb und schrien in ihrer Angst ihn an.

Da fing er an zu weinen und sagte: „Ich bin kein Dieb. Ich habe nur das Fräulein so lieb und wollte einmal in ihrer Nähe sein.“

Nun sah man nach den Löchern in den Mauern und besprach sich darüber, daß ein Knabe so etwas nicht fertig bringen könne. Da zog er seine Hacke hervor und erzählte von ihrer Wunderkraft. Er ließ sie auch probieren. Man erschrak und wunderte sich über diese Göttergabe. Die Mägde wollten die Sache der Mutter erzählen. Das Mädchen stand mit gesenktem Kopf in tiefen Gedanken daneben und schien nicht damit einverstanden.

Da errieten sie ihre Gedanken und sagten: „Der Knabe stammt aus einer guten Familie und scheint nichts Böses gedacht zu haben. Wir wollen ihn laufen lassen. Der heiratet Euch sicher noch! Wie wärs, wenn wir Eurer Mutter morgen früh nur sagten, es sei ein Dieb dagewesen.“

Das Mädchen sagte nichts. Sie drängten den Knaben zu gehen; der wollte aber erst seine Hacke wiederhaben.

Lächelnd gab sie ihm eine Magd und sprach: „Der fixe Kerl! Sein schlimmes Werkzeug vergißt er nicht.“

Der Schüler entdeckte neben den Kissen einen Haarpfeil. Den barg er heimlich in seinem Ärmel. Eine Magd ertappte ihn dabei. Hastig entschuldigte er sich. Das Mädchen sprach kein Wort, war aber auch nicht böse.

Eine Alte klopfte ihm auf die Schulter und sprach: „Ihr

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Richard Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. Eugen Diederichs, Jena 1914, Seite 335. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_ChinVolksm_335.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)