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1. Kirchlicher Charakter ihrer Reformation.


 In den letzten Zeiten vor der Reformation waren in der römischen Kirche so viele Neuigkeiten und Misbräuche aufgekommen, daß ein allgemeiner Unwille die einsichtsvolleren Menschen in allen Ländern Europas ergriff. Von verschiedenen Seiten her hatte man schon vor Luther einen Anlauf zur Reformation genommen, wie davon die Concilien von Costnitz und Basel allein schon hinreichendes Zeugnis ablegen können. Das Mislingen dieser Anläufe erregte die Sehnsucht nach Hilfe nur um so mehr, und diejenigen, welche alle Wohlthaten für nicht an der Zeit erkennen, wenn sie nicht durch ein „dringendes Bedürfnis“ gefordert sind, werden gewis in der vor Dr. Martin Luther hergehenden Zeit das dringendste Bedürfnis nach Reformation erkennen müßen.

 Da die Zeit erfüllet war, reichte der HErr die erkleckliche Hilfe. Er hatte verschafft, daß eben griechisches und ebräisches Sprachstudium einen neuen, zuvor unbekannten Aufschwung nehmen mußte. So war denn auch ein Zurückgehen auf die Erkenntnisquellen der Religion, auf das Alte und Neue Testament, ganz nahe gelegt. Je unbekannter diese Erkenntnisquellen geworden waren, desto überraschter war man über den Gegensatz, welcher sich zwischen diesen Quellen und dem damaligen Bestand der Lehre und Kirche fand. Ueberraschender, als nach einer Zeit so tiefen Schlafes, konnte die Klarheit des göttlichen Wortes nicht leicht hervortreten. Ja, nicht blos überraschend klar, sondern hinreißend war der Gegensatz der Schrift gegen die damalige Gestalt der Lehre und Kirche. Schriftmäßigkeit wurde das ernste dringende Erfordernis der Reformatoren.