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reinen Lehre entspringt das richtige Urtheil über alles Irdische und Zufällige. Da fange man an zu prüfen, zu suchen und zu finden. Man sei nicht zu engherzig im Festhalten gewisser seit der Reformation bestehenden Formen und Aeußerlichkeiten. Manche Thesis ist ohne Antithesis, manche Antithesis ohne Thesis geblieben. Mancher Misbrauch ist sammt dem frommen Gebrauch dahingeworfen worden. Manches ist blos aus Polemik weggeworfen worden, und man hat nicht beachtet, daß nach überflüßig gewordener Polemik das Weggeworfene wieder aufgenommen werden dürfte. Von der Stellung der Kirche zum Staate, von Kirchenverfaßung und Kirchenordnung gar nicht zu sprechen. Mit Einem Worte: Man gebe doch der Kirche ihrer Lehre Folgen! Ist sie die reine, warum denn nicht die Eine! Ist sie apostolisch, warum denn nicht katholisch! Ist sie die einfältige und demütige, warum soll ihr nicht zukommen, was in aller Welt schön, herrlich und erhaben ist? – Man rühre sich! Man führe aus Landen herbei, was ihr frommt. Man führe sie aus in die Lande, damit sie nütze und fromme! Man baue und erbaue sie auf den festen Gründen ihrer Lehre, und vergeße nicht, daß, wer ihr hilft, der stellt ihr Licht auf den Leuchter, daß es die Nationen sehen und sich freuen über die freie Freistadt aller Elenden, über die, die umsonst empfangen hat und umsonst gibt, was selig macht!

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 Man könnte vielleicht auch sagen: die Reformation der Lehre ist geschehen; aber die Kirche erfreut sich des Reichtums ihrer reinen Lehre nicht, wie sie soll, und fühlt nicht die Bedeutung, die sie dadurch hat. Noch ist ihr immer, als sei sie nur geduldet, als lebe sie von der Menschen Gnade. Sie weiß nicht, daß sie einen Freiheitsbrief von Gott hat, Seiner Gnade und ihres Glaubens frank und frei zu leben, und mit ihrem Reichtum alle Welt glücklich zu machen. Sie erkennt nicht, daß sie, nachdem sie die reine Kirche geworden, vor andern eine Erbin aller göttlichen Verheißungen ist. Sie ist sich selbst zu sehr blos Dogma, zu wenig Person, zu wenig sich ihrer selbst, ihrer Gnade, ihrer Würde, ihrer Kräfte bewußt. In kirchlichem Bewußtsein, Leben und Werk ist sie noch lange nicht wieder, was die reine Kirche der ersten Jahrhunderte war! Hier gibt es noch zu reformiren! Und hier reformire uns der